1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
440 H- Lehrende Prosa: Philosophische Propädeutik, Pädagogik und Ethik.
Extreme liegt, so mußte auch die schönere Form der Vernunft und Hu-
mauität in diesem gemäßigtern Himmelsstriche ihren Platz finden. Und
sie hat ihn nach dem Naturgesetze dieser allgemeinen Konvenienz reichlich
gefunden. Denn ob man gleich fast alle asiatischen Nationen von jener
Trägheit nicht freisprechen kann, die bei guten Anordnungen zu frühe
stehen blieb und eine ererbte Form für unableglich und heilig schätzte,
so muß man sie doch entschuldigen, wenn man den ungeheuren Strich
ihres festen Landes und die Zufälle bedenkt, denen sie insonderheit von
dem Gebirge her ausgesetzt waren. Im ganzen bleiben ihre ersten frühen
Anstalten zur Bildung der Humanität, eine jede nach Zeit und Ort be-
trachtet, lobenswert, und noch weniger sind die Fortschritte zu verkennen,
die die Völker an den Küsten des Mittelländischen Meeres in ihrer größten
Regsamkeit gemacht haben. Sie schüttelten das Joch des Despotismus
alter Regierungsformen und Traditionen ab und bewiesen damit das
große, gütige Gesetz des Menschenschicksals: „Das, was ein Volk öder-
em gesamtes Menschengeschlecht zu seinem eigenen Besten mit Überlegung
wolle und mit Kraft ausführe, das sei ihm auch von der Natur vergönnt,
die weder Despoten noch Traditionen, sondern die beste Form der Hu-
manität ihnen zum Ziele setzte."
Wunderbar schön versöhnt uns der Grundsatz dieses göttlichen Natur-
gesetzes nicht nur mit der Gestalt unseres Geschlechts auf der weiten Erde,
sondern auch mit den Veränderungen desselben durch alle Zeiten hinunter.
Allenthalben ist die Menschheit das, was sie ans sich machen konnte,
was sie zu werden Lust und Kraft hatte. War sie mit ihrem Zustande
zufrieden oder waren in der großen Saat der Zeiten die Mittel zu ihrer
Verbesserung noch nicht gereift, so blieb sie Jahrhunderte hin, was sie
war, und ward nichts anderes. Gebrauchte sie aber der Waffen, die ihr
Gott zum Gebrauche gegeben hatte, ihres Verstandes, ihrer Macht und
aller der Gelegenheiten, die ihr ein günstiger Wind zuführt, so stieg sie
künstlich höher, so bildete sie sich tapfer aus. That sie es nicht, so zeigt
schon diese Trägheit, daß sie ihr Unglück minder fühlte; denn jedes leb-
hafte Gefühl des Unrechts, mit Verstand und Macht begleitet, muß eine
rettende Macht werden.
Kein Zweifel aber, daß überhaupt, was auf der Erde noch nicht
geschehen ist, künftig geschehen werde; denn unverjährbar sind die Rechte
der Menschheit, und die Kräfte, die Gott in sie legte, unaustilgbar.
Wir erstaunen darüber, wie weit Griechen und Römer es in ihrem Kreise
von Gegenständen in wenigen Jahrhunderten brachten; denn wenn auch
der Zweck ihrer Wirkung nicht immer der reinste war, so beweisen sie
doch, daß sie ihn zu erreichen vermochten. Ihr Vorbild glänzt in der
Geschichte und muntert jedes ihresgleichen, unter gleichem und größerem