1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
454 Ii. Lehrende Prosa: Philosophische Propädeutik, Pädagogik und Ethik.
ohne feindlich zusammenzustoßen; hier liegen für alle gemeinsame Ziele,
und es ist doch zugleich in ihrer Auffassung und Verfolgung jeder Eigen-
tümlichkeit, der Völker wie der Individuen, der freieste Spielraum ge-
lassen. Je lebendiger ein Volk von dem Werte der Bildung durchdrungen
ist, je höher es die geistigen und sittlichen Interessen stellt, je ernster,
hingebender und selbstloser es sie verfolgt, um so harmonischer wird sich
sein nationales Leben dem der Menschheit einfügen, um so vollständiger
wird in demselben der Gegensatz der Nationalität und der Humanität
gelöst sein.
Unter allen neueren Völkern ist nun wohl keines, dem die Erfüllung
dieser Forderung durch seine natürliche Begabung wie durch seine bis-
herige Entwicklung in höherem Maße erleichtert würde, als dem unsern.
In der deutschen Art lag es ja von jeher, sich mehr nach innen als
nach außen zu wenden, sich mit den sittlichen, religiösen, philosophischen
Fragen lebhafter und anhaltender zu beschäftigen, als mit den Dingen,
welche den meisten für die Macht und den Wohlstand der Völker die
wichtigsten zu sein scheinen. Das deutsche Volk hat sich diesem Zuge
seiner Natur Jahrhunderte lang einseitig überlassen, und es hat deshalb
die Erfolge, die es im Gebiete des geistigen Lebens errang, mit langer
Vernachlässigung und schwerer Schädigung seiner materiellen Interessen
erkauft. Als andere Völker sich zu starken Nationalstaaten zusammen-
faßten, ging von Deutschland der epochemachende Anstoß zur Befreiung
und Umgestaltung des religiösen Bewußtseins aus; aber seiner politischen
Einheit wurden durch den Streit der Konfessionen unheilbare Wunden
geschlagen. Als unsere Nachbarn jenseits der Vogesen ihr Staatswesen
unter krampfhaften Zuckungen ernenebten, feierten wir das goldene Zeit-
alter unserer Poesie und unserer Philosophie; aber unser Vaterland lag
blutend und zerrissen zu den Füßen des fremden Eroberers. Während
andere durch Handel und Industrie zu hohem Wohlstände gelangten, blieb
Deutschland in seiner wirtschaftlichen Entwicklung um ebensoviel zurück, als
es in der Wissenschaft und Litteratur seinen Nebenbuhlern vorauseilte.
Wenn Engländer und Franzosen in stolzem Nationalgefühl andere Völker
nicht selten verletzten und hochmütig auf sie herabsahen, waren die Deut-
schen zwar immer geneigt, das Fremde anzuerkennen und sich anzueignen,
aber sie ließen sich auch nur zu oft verleiten, das Einheimische zu ver-
achten und zu verleugnen, der nationalen Selbstüberhebung Selbstweg-
werfung entgegenzubringen. In unsern Tagen hat sich dieses geändert;
das heutige Deutschland darf sich in seinem wirtschaftlichen wie in seinem
politischen Leben, in seinen kriegerischen so gut wie in seinen wissenschaft-
lichen Leistungen jedem andern in freudigem Selbstgefühle zur Seite
stellen; es war unserem glücklichen Geschlechte beschieden, die Höhe zu