1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
514 C. Musteraufsätze für Schüler.
tion, den sogenannten erregenden Momenten oder der Peripetie und der
Katastrophe.
Diesem dramatischen Aufbau entsprechend hat der Dichter, welcher die
Auffassung der Verhältnisse Lenorens und ihrer Mutter ganz der Phan-
tasie des Lesers überläßt, mit Geschick den Dialog angewendet. Wie im
Drama sind dabei die verbindenden Wörter der einfachen Erzählung, wie:
sagen, antworten, erwidern, entgegnen, völlig vermieden. Minder wesent-
liche Gedanken oder Vorgänge werden übergangen; ohne jede erklärende
Bemerkung wechselt der Schauplatz der Handlung: von der Heerstraße
begleiten ivir unwillkürlich Lenore in ihr Kämmerlein und eilen mit ihr
hinaus zu dem den Pfortenring rührenden Wilhelm, hinaus über Anger,
Heid' und Land, vorbei an Dörfern, Städten und Flecken.
Die Darstellung weist eine stete Steigerung auf. Der Dialog zwi-
schen Tochter und Mutter zeichnet den brennenden Schmerz Lenorens,
ihre Verzweiflung , ihre Auflehnung gegen Gott und ihr Hadern mit
Gottes Vorsehung in immer wachsender Steigerung. Ebenso zeigt auch
der Todesritt einen unaufhaltsamen Fortschritt. „Wie flogen Anger,
Heid' und Land, Wie donnerten die Brücken!" Diese Schnelligkeit und
Hast des Ritters wird noch gesteigert durch die Schilderung: „Wie flogen
rechts, wie flogen links Gebirge, Bäum' und Hecken! Wie flogen links
und rechts und links Die Dörfer, Städt' und Flecken!" Der immer
raschere Ritt läßt schließlich nicht einmal mehr die Gegenstände erkennen,
an denen er vorbeisanst: „Wie flog, was rund der Mond beschien, Wie
flog es in die Ferne! Wie flogen oben überhin Der Himmel und die
Sterne!" Eine gleiche Steigerung weist der Dialog zwischen dem Ge-
spenst und Lenore auf. Der dreimal gleichmäßig mit kaltem Hohne ge-
stellten Frage: „Grant Liebchen auch? Der Mond scheint hell! Hurra!
die Toten reiten schnell! Grant Liebchen auch vor Toten?" folgt die
jedesmal erregtere Antwort: „Ach nein! Doch laß die Toten!" „Ach,
laß sie ruhn, die Toten!" „O weh! Laß ruhn die Toten!" So zeigt
sich in jeder Strophe eine stets zunehmende Steigerung, die unsere Phan-
tasie unaufhaltsam mit dahinreißt, so daß wir zum Schlüsse den Ketten-
tanz der Geister, im Kreise um die unglückliche Lenore aufgeführt, fast
zu sehen und ihre schauerlich klingende Weise zu vernehmen wähnen.
Dem Stoffe und der Anlage entsprechend ist die Form gewählt. Die
rasch dahineilende Handlung hat der Dichter trefflich durch das leicht
dahinfließende jambische Versmaß mit bald männlichem, bald weiblichem
Schluffe ausgedrückt. Er bedient sich dabei der dreiteiligen Strophe mit
je zwei Stollen in der Reimstellung ad ad und dem Abgesange in der
Reimstellung eoctä. Die wiederholte Anwendung des Refrains giebt
einzelnen enger zusammengehörenden Teilen einen natürlichen Abschluß.