Anfrage in Hauptansicht öffnen

Dokumente für Auswahl

Sortiert nach: Relevanz zur Anfrage

1. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 514

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
514 C. Musteraufsätze für Schüler. tion, den sogenannten erregenden Momenten oder der Peripetie und der Katastrophe. Diesem dramatischen Aufbau entsprechend hat der Dichter, welcher die Auffassung der Verhältnisse Lenorens und ihrer Mutter ganz der Phan- tasie des Lesers überläßt, mit Geschick den Dialog angewendet. Wie im Drama sind dabei die verbindenden Wörter der einfachen Erzählung, wie: sagen, antworten, erwidern, entgegnen, völlig vermieden. Minder wesent- liche Gedanken oder Vorgänge werden übergangen; ohne jede erklärende Bemerkung wechselt der Schauplatz der Handlung: von der Heerstraße begleiten ivir unwillkürlich Lenore in ihr Kämmerlein und eilen mit ihr hinaus zu dem den Pfortenring rührenden Wilhelm, hinaus über Anger, Heid' und Land, vorbei an Dörfern, Städten und Flecken. Die Darstellung weist eine stete Steigerung auf. Der Dialog zwi- schen Tochter und Mutter zeichnet den brennenden Schmerz Lenorens, ihre Verzweiflung , ihre Auflehnung gegen Gott und ihr Hadern mit Gottes Vorsehung in immer wachsender Steigerung. Ebenso zeigt auch der Todesritt einen unaufhaltsamen Fortschritt. „Wie flogen Anger, Heid' und Land, Wie donnerten die Brücken!" Diese Schnelligkeit und Hast des Ritters wird noch gesteigert durch die Schilderung: „Wie flogen rechts, wie flogen links Gebirge, Bäum' und Hecken! Wie flogen links und rechts und links Die Dörfer, Städt' und Flecken!" Der immer raschere Ritt läßt schließlich nicht einmal mehr die Gegenstände erkennen, an denen er vorbeisanst: „Wie flog, was rund der Mond beschien, Wie flog es in die Ferne! Wie flogen oben überhin Der Himmel und die Sterne!" Eine gleiche Steigerung weist der Dialog zwischen dem Ge- spenst und Lenore auf. Der dreimal gleichmäßig mit kaltem Hohne ge- stellten Frage: „Grant Liebchen auch? Der Mond scheint hell! Hurra! die Toten reiten schnell! Grant Liebchen auch vor Toten?" folgt die jedesmal erregtere Antwort: „Ach nein! Doch laß die Toten!" „Ach, laß sie ruhn, die Toten!" „O weh! Laß ruhn die Toten!" So zeigt sich in jeder Strophe eine stets zunehmende Steigerung, die unsere Phan- tasie unaufhaltsam mit dahinreißt, so daß wir zum Schlüsse den Ketten- tanz der Geister, im Kreise um die unglückliche Lenore aufgeführt, fast zu sehen und ihre schauerlich klingende Weise zu vernehmen wähnen. Dem Stoffe und der Anlage entsprechend ist die Form gewählt. Die rasch dahineilende Handlung hat der Dichter trefflich durch das leicht dahinfließende jambische Versmaß mit bald männlichem, bald weiblichem Schluffe ausgedrückt. Er bedient sich dabei der dreiteiligen Strophe mit je zwei Stollen in der Reimstellung ad ad und dem Abgesange in der Reimstellung eoctä. Die wiederholte Anwendung des Refrains giebt einzelnen enger zusammengehörenden Teilen einen natürlichen Abschluß.
   bis 1 von 1
1 Seiten  
CSV-Datei Exportieren: von 1 Ergebnissen - Start bei:
Normalisierte Texte aller aktuellen Treffer