1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
Vi. Das Hildebrandslied ein Kleinod altdeutscher Dichtung. 519
Heiße Vaterliebe und das brennende Gefühl der Ehre, die dem Helden
über alles geht, toben darin und zerren den vor innerem Schmerze in
stöhnende Jammerlaute Ausbrechenden hin und her. Die Ehre siegt, sie
heischt den Kampf, kostet es auch das Blut des einzigen geliebten Sohnes.
In Wahrheit eine Scene, wie sie packender, erschütternder, herzzerreißen-
der nicht gedacht werden kann, wie sie nur wenige dichterische Schöpfungen
zu bieten vermögen. Und nun geschieht das Entsetzliche. Ein wütender
Kampf bricht los. Waffen blitzen und sausen, und furchtbar sind ihre
Wirkungen. Den Ausgang erfahren wir leider nicht, weil das Ende des
Liedes nicht erhalten ist. Der Verlust ist jedoch zu verschmerzen, da wir
das, was den Höhepunkt des Gedichtes ausmacht und ihm seine Groß-
artigkeit und seinen Hauptwert verleiht, die Schilderung des innern
Seelenkampfes, glücklicherweise ganz besitzen.
Wird unsere Aufmerksamkeit auch vorzugsweise durch die Personen
und die Handlung, welche sozusagen den Vordergrund des Liedes aus-
machen, in Anspruch genommen, so erfahren wir auch noch manches andere,
was der Beachtung wert ist. Auch die Schicksale Dietrichs von Bern
und seines Feindes Otaker erhalten in dem Liede hinreichende Beleuchtung.
Jener ist in einem Kampfe gegen diesen unterlegen, freilich im Wider-
sprüche mit der Geschichte; er zieht an den Hof Etzels, der, wie wir aus
dem „Nibelungenliede" wissen, in der Sage als eine Zufluchtsstätte für
alle unglücklichen Landesflüchtigen und zugleich als Schauplatz ihrer wei-
teren Heldenthaten gilt. Otaker ist der glückliche Sieger und hat ein
starkes, wohlgeschütztes Reich gegründet. Dietrich ist ein echter germa-
nischer Volkskönig, der seinen Unterthanen mehr Freund als Herrscher ist;
aber auch Otaker ist ein Mann, von dem man, nach dem Verfahren
gegen Hildebrands Familie zu rechnen, für das Verhältnis zu seinen Unter-
thanen nur das Beste annehmen darf. So entfaltet sich denn im Hinter-
gründe des Liedes ein bemerkenswertes Stück germanischer Geschichte.
Nicht minder ansprechend ist, was dasselbe über die Zustände und
Sitten dieses Zeitabschnittes, namentlich über die Mittel und den Brauch
des Kampfes, zu melden weiß. Lanzen mit eschenen Schäften, Kampfbeile
von Stein und Schwerter sind die Angriffs-, Ringpanzer und Schilde
von Lindenholz sind die Verteidigungswaffen, goldene Armringe dagegen
ein gesuchter Schmuck des Kriegers. Zuerst werden die Lanzen geworfen,
dann stürmt man mit Beil und Schwert gegeneinander. Ziel des Kampfes
ist der Tod des Feindes, Lohn desselben seine erbeutete Rüstung. Der
Zweikampf der Anführer inmitten der feindlich gegenüberstehenden Heere
ist ein beliebtes Mittel, einen Krieg zum Austrage zu bringen. Alle
diese Dinge erregen doppeltes Interesse, wenn mau sich erinnert, daß die
Kampfsitten der Helden der Homerischen „Ilias" fast dasselbe Bild dar-