1903 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Mittealter
- Geschlecht (WdK): Jungen
Zweite Periode. § 4. Heidnischer Volksgesang und Sagenbildung.
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Erste Periode, bis 806.
8 4.
Heidnischer Volksgesang und Sagenbildung.
Nach der Überlieferung des römischen Schriftstellers Tacitus (etwa
von 54 bis 117 n. Chr.; Osrin. 2 und 3 und Annales 2, 88) bestand
schon frühzeitig bei unsern Vorfahren ein Volksgesang, durch welchen
sie bald ihre Götter und Helden feierten, bald zur Schlacht sich anfeuerten
(der Vortrag dieses Liedes hieß barditus — Bartlied zu Ehren des bärtigen
Gottes Donar oder Schildgesang vom altnordischen bardhi — Schild),
bald bei fröhlichem Mahle sich ergötzten. Von der Sitte, die Taten hervor-
ragender Helden durch Lieder unter Begleitung der Harfe zu feiern, berichtet
auch Jordanes (um 550) in seiner Gotengeschichte betreffs des aus den
Katalaunischen Feldern gefallenen Königs Theoderich (ff 452). Dieselbe
Sitte lernen wir im Beowulfsliede kennen („Sie verkündeten sein ritter-
liches Wesen und priesen mächtig seine Heldentat").
Die Zeit der Völkerwanderung im 4., 5. und 6. Jahrhundert
gab sodann dem poetischen Geiste und der leicht empfänglichen Phantasie
des jungen Volkes neue Nahrung; es entstanden im Anschluß an hervor-
ragende Heldengestalten bestimmte Sagenkreise, in denen Histo-
risches mit Mythischem (Mythus = Dichtung der Volksphantasie über das
Walten der Götter und der Naturkräfte) sich mischte, und manches, was
nach Ort und Zeit getrennt war, innig verbunden wurde. So bildeten
sich folgende sieben Sagenkreise:
1. Der ostgotische, in welchem der Held der älteren Sage, Er-
men rich, den tapfern greisen Gotenkönig Hermanrich darstellt, der den
Untergang seines Reiches durch die Hunnen nicht überleben wollte und
sich im Jahre 375 den Tod gab. Der Held der jüngeren Sage ist
Theoderich der Große (ff 526), welcher nach der Gründung eines ost-
gotischen Königreiches in Italien seine Residenz in Ravenna, oft auch in
Verona hatte, weshalb ihn die Sage Dietrich von Bern, „Volksfürst
von Verona", nennt. Der Sage nach von Odoaker besiegt (umgekehrt in
der Geschichte), lebt er verbannt mit seinen! Waffenmeister Hildebrand
längere Zeit am Hofe des Königs Etzel in Ungarn.
2. Der fränkische oder niederrheinische, dessen Held Siegfried von
Niederland ist mit dem Wohnsitze in Xanten. Schon frühzeitig machten
sich in diesem Sagenkreise mythische Einflüsse geltend.
3. Der burgundische, dessen Helden der Burgundenkönig Günther
(Gundikar der Geschichte, 437 mit seiner Macht durch die Hunnen ver-