1908 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Führer, Anton, Hense, Joseph
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Neuzeit
- Geschlecht (WdK): Jungen
44. Nachklänge der Romantik, v. Chamisso.
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Sie hat gespart und hat gesonnen
Und Flachs gekauft und nachts gewacht
Und Flachs zu feinem Garn gesponnen,
Das Garn dem Weber Hingebracht;
Der hat's gewebt zu Leiuewand;
Die Schere brauchte sie, die Nadel
Und nähte sich mit eigner Hand
Ihr Sterbehemde sonder Tadel.
Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, sie schätzt es.
Verwahrtes im Schrein am Ehrenplatz;
Es ist ihr erstes und ihr letztes,
Ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz.
Sie legt es an, des Herren Wort
Am Sonntag früh sich einzuprägen;
Dann legt sie's wohlgefällig fort,
Bis sie darin zur Ruh' sie legen.
Und ich, an meinem Abend, wollte,
Ich hätte, diesem Weibe gleich,
Erfüllt, was ich erfüllen sollte.
In meinen Grenzen und Bereich;
Ich wollig ich hätte so gewußt
Am Kelch des Lebens mich zu laben,
Und könnt' ani Ende gleiche Lust
An meinem Sterbehemde haben.
4. Die Lreustchau.
Der Pilger, der die Höhen überstiegen,
Sah jenseits schon das ausgespannte Tal
In Abendglut vor seinen Füßen liegen.
Auf duft'ges Gras, im milden Sonnenstrahl
Streckt er ermattet sich zur Ruhe nieder.
Indem er seinem Schöpfer sich befahl.
Ihm fielen zu die matten Augenlider,
Doch seinen wachen Geist enthob ein Traum
Der irdischen Hülle seiner trügen Glieder.
Der Schild der Sonne ward im Himmelsraum
Zu Gottes Angesicht, das Firmament
Zu seinem Kleid, das Land zu dessen Saum.
„Du wirst dem, dessen Herz dich Vater nennt.
Nicht, Herr, im Zorn entziehen deinen Frieden,
Wenn seine Schwächen er vor dir bekennt.
„Daß, wen ein Weib gebar, sein Kreuz hienieden
Auch duldend tragen muß, ich weiß es lange;
Doch sind der Menschen Last und Leid verschieden.
„Mein Kreuz ist allzu schwer; sieh, ich verlange
Die Last nur angemessen meiner Kraft;
Ich unterliege, Herr, zu hartem Zwange."
Wie er so sprach zum Höchsten kinderhast,
Kam brausend her der Sturm, und es geschah,
Daß aufwärts er sich fühlte hingerafft.
Und wie er Boden faßte, fand er da
Sich einsam in der Mitte räum'ger Hallen,
Wo ringsum sonder Zahl er Kreuze sah.