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1. Handbuch für den deutschen Unterricht in den oberen Klassen der Gymnasien - S. 590

1872 - Köln : DuMont-Schauberg
Vierter Abschnitt. Literatur- und Kunstgeschichte. 81. Uebersicht der poetischen Ideale» Aus der östlichen Region, von den hohen Himalaya-Bergen, wo die Wiege des Menschen- geschlechtes war, dort herunter steigt auch die Poesie. Sie zeigt sich in China und Indien im Kindergewande. Eine oberflächliche Buntheit und charakterlose Zerflossenheit herrscht hier, der Pinsel vermag noch nicht die Gestalten in wenigen charakteristischen Umrissen zu markiren. Daher ist Weitschweifigkeit und ein Spielen der Phantasie in die Breite hier heimisch, wobei das Allegorische den Platz des mangelnden Charakteristischen ausfüllt. Die Poesie ist hier noch nicht innerlich geworden. Die Phantasie spricht mehr als der Affect, eben wie bei Kin- dern. Die Poesie besteht in einer Menge von Bildern, welche zauberhaft wie ein Gaukel- spiel dem Auge vorüberziehen. Solcher phantastische Zug von Gestalten und Scenen wurde von den Griechen in die strengen Regeln der Grazie und Harmonie eingeschlossen. Die Griechische Poesie ist ein Spiel würdevoller und schöner Gestalten, eine in Worte übersetzte Sculptur im edelsten Stil. Dahingegen sängt in der Psalmen-Poesie der Hebräer ein poe- tischer Quell von ganz entgegengesetzter Natur zu sprudeln an, welcher die Phantasie entweder überflügelt oder vernachlässigt, aber in die innersten Tiefen des Gemüthes eindringt, die Seele erschüttert als eine in Worte übersetzte ergreifende Musik. Die Griechische Poesie steht hier in der Mitte, gleichsam als eine Pforte, durch die man aus dem Indischen Zustande der Dichtung, in welchem sie bloßes reizendes Bilderspiel und sinnliche Glut ist, in ihre gestaltlose Tiefe hinübergehen kann, wo sie unmittelbar das Herz ergreift und erschüttert, ohne Bild, ohne Gleichniß, ohne Sinnenreiz. Denn in der griechischen Statue verwandelt sich das Gebilde der Phantasie in die Innerlichkeit eines bestimm! ausgeprägten Charakters, wird zu einem individuellen Selbstleben, einer innerlichen Person. Die drei Grade der Indischen, Griechischen und Hebräischen Schönheit, welche sich auch aussprechm lassen als phantasiereiche, charaktervolle und herzergreifende Schönheit, finden sich auch ausgebildet in den drei Hauptarten der Poesie, nämlich dem Epos, dem Drama und dem lyrischen Gedichte. Jedes Ideal begünstigt eine dieser Hauptgattungen vorzüglich. Die Poesie der Indier ist durchaus episch und schildernd, auch ihre dramatische wie die Sakontala. Die der Griechen ist durchaus dramatisch, auch die epische, wie Homer. Die der Hebräer ist durchaus lyrisch, auch die dramatische, wie Hiob. Die dramatische Kunst hat immer etwas Plastisches an sich; sie ist ein lebendiges Gemälde, oder eine Statuen- gruppe, bewege sich dieselbe nun wirklich vor unseren Augen oder in unserer Phantasie. Die Lyrik hat immer etwas Musikalisches an sich und läßt immer einen gewissen Gesang mittönen, werde dieser nun wirklich vorgetragen, oder ertöne er nur in uns als eine inner- liche Begleitung, ein Mittönen der Seele zum Liede. Das Epos, als eine fortfließende, ausgebreitete Historie, Märchen, Roman, hat die Spannung seines Interesses in dem Fort- gange der Begebenheiten, dessen Darstellung der Rede eigenthümlich angehört und außer dem Bereich der übrigen Künste liegt.
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