1872 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Bone, Heinrich
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1853
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Gymnasium, Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Mittelalter, Neuzeit
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Lustgang durch die Reiche alter Poesie.
Gewässern, an deren Ufern die geheiligte Blume des Lotos wächst. Aber an Blütensträu-
chern hangen in Traubengestalt die summenden Bienenschwärme. Die Phantasie bevölkert
diese Urwälder mit wunderbaren Ungeheuern, Schlangen, Riesen, Menschenaffen, Vogel-
menschen und verständigen, in religiösen Uebungen begriffenen Elephanten. Aber auf dem
Gipfel des Himalaya-Gebirges stürzt aus dem Himmel auf die Erde der sündenabwaschende
Gangesstrom, welcher jedes Wesen heiligt, das sich in seine Wellen taucht.
Mit China zeigt sich im geraden Contrast Aegypten, welches zwar in der Poesie so
gut wie pausirt, aber in seinen sonstigen Kunstdarstellungen sich höchst bedeutend zeigt. Es
trägt überall das schwarze, nächtliche Colorit an sich. Es ist die Idee des Todes und der
Unsterblichkeit, welche es nie müde ward auszusprechen, in unersättlicher, aber imposanter
Monotonie. Dieser melancholische Einklang in Gefühlen und Ideen findet sein natürliches
Gegenbild in den pflanzenarmen, hügeligen und heißen, dazu regenarmen Landstrecken voll
Melancholie und heißbrütender Schwüle.
In Persien sehen wir von alten Zeiten her dengährungskessel tobender Völkermassen,
welche zu keinem ruhigen, gesetzten und geordneten Zustande kommen können. Die herr-
schende poetische Idee ihres alten Heldenthums ist der Kampf des Lichtes gegen die Finster-
niß, Kampf der selbstbewußten Vernunft gegen Obscuranz und Mysticismus, wie er in den
Religionen von Indien, Syrien, Chaldäa und Phönicien das Land umgab. Daher wurde
besonders die Reinheit und Klarheit der durchsichtigen Elemente verehrt, die Klarheit des
reinen Wassers, der frischen Luft, der stoffverzehrenden Flamme, des ätherischen Lichts.
Wir treten dann aus dem alten, mehr oder minder phantastischen Orient über nach
Griechenland, in ein ganz anderes Element. Der wunderbar wohlthätige und gegen den
Orient abstechende Eindruck, den wir hier empfangen, ist der einer frischen und angenehmen
Kühle. Die Bilder des Meeres spielen beim ältesten Griechischen Dichter Homer eine Haupt-
rolle, die Poesie umspielt uns wie ein erquickender Seewind. Hier ist zuerst Poesie des maß-
vollen, selbstbewußten, sich seinen Gegenstand in objectiver Ferne haltenden Gedankens. Hier
herrscht hervorragender Sinn für plastische Schönheit, geweckt durch gymnastische Spiele und
ein großes heroisches Leben. Hier ist die Schönheit ein Aether, welcher nicht entflammt,
sondern wilde Gluten abkühlt, und keine Gestalt duldet, welche nicht im Quell dieser Er-
frischung gebadet ist, gleich ihren von nassen Gewändern umflossenen Statuen. Lieblings-
themata dieser Poesie sind die historischen, das Walten des Fatums und der Nemesis in der
Geschichte, das Heldenthum der Freundschaft und Treue, die Charaktergröße und Selbst-
beherrschung, welche das Unvermeidliche groß und edel trägt. Auch hier gab das Land, als
ein Tempel der Grazie, und das Leben, als eine stets eröffnete Rennbahn harmonischer Schön-
heit, die Bilder her, welche solchem hohen Ideal als Organe dienen konnten. Rings um-
flossen von der ätherischen Meerflut, welche in vielen Buchten und Busen sich schmeichlerisch
in das Land stiehlt, bietet es auch im Innern angenehme Thäler, durchschlängelt von küh-
lenden Gewässern. Darin ragen heitere Bergkuppen empor, die Gipfel des Olymps und
Parnaß schimmern im steten Lichtglanz. Es ist das roßprangende Land, geschmückt mit
der Eiche des Zeus und deni Oelbaume der Athene, geschmückt mit schwelgenden, unbetretenen
Götterhainen voll Lorbern, Epheu, Safran und Narcissen.
Wir treten von Griechenland über in das Hebräische Element, welches dem
ganzen Heidenthum des Orients und Occidents feindlich und gewaltsam entgegentritt.
Hier umwölkt sich der Himmel, und ein nie ermüdendes Gewitter entlädt sich mit furcht-
baren Schlägen. Die affectvolle Poesie wühlt in unaushaltbaren Schmerzen, strömt
die ganze Seele aus wie Blut. Schwarze und finstere Bilder ziehen auf; Jehovah
hat gesprochen, er wolle in der Nacht wohnen, sprach Salomo, als er seinen Tempel
weihete. Dunkle Gewitter ziehen über das Meer hin; Jehovah donnert in der Wüste, wo