1872 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Bone, Heinrich
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1853
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Gymnasium, Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Mittelalter, Neuzeit
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Die Griechische Literatur und ihre Dialekte.
er uns aufrollt, die Thaten der älteren und der neueren Zeit, den Wandel der Völker und
ihrer Könige, wunderbare und unmuthige Abenteuer, weise und vielbedeutende Reden, merk-
würdige Sitten und Lebensweisen der Völker und seltene Erscheinungen der Natur und des
menschlichen Kunstfleißes. Auch hier ist alles gestaltvoll, lebendig und ausführlich. Aber
diesem epischen Geiste war die Dorische Mundart kein passendes Organ, und sie zu diesem
Zwecke umzugestalten, mochte zu jener Zeit, wo ihr Charakter schon fest stand, unmöglich
scheinen. So nahm er, was sich von selbst darbot, die dem Epos geweihte, und folglich
auch seinem geschichtlichen Epos analoge, Jonische Mundart aus. Und nie ist eine Wahl
glücklicher gewesen. Wer möchte die Musen Herodot's in einer anderen Sprache lesen, oder
wer ist alles-Sinnes für Angemessenheit so beraubt, um Herodot's Jonismus, der sein
ganzes Werk vom Anfang bis zum Ende durchdringt, in eine andere Mundart, etwa die Attische,
übersetzt zu wünschen? Denn auch hier zeigt sich, was überhaupt die Griechische Kunst auf
eine so herrliche Weise auszeichnet, jener wundervolle Zusammenklang des Inhalts und der
Form, jenes Zusammentreffen der inneren und äußeren Musik, dieser ersten und nothwen-
digsten Bedingung zur Schönheit, die von den Neueren so oft vernachlässigt, häufig verkannt,
ja, wohl gar mit einer nur Barbaren zustehenden Stumpfheit des Gefühls abgeläugnet wird.
Denn eben darin thut der Barbar sich kund, daß er, die Form vernachlässigend, nur an dem Stoffe
hängt, beides vereinzelt und die harmonische Eintracht von beiden weder beachtet noch würdigt.
Als nun die Periode der Kindheit von Hellas sich in das Jünglingsalter verlor und
die erste frische Begier nach dem Neuen und Wunderbaren gestillt war, als gleichsam der
Jüngling in sich selbst erwachte und in sein Inneres zu schauen begann, da ward, durch die
näher liegende, kräftig erregte Welt seiner inneren Natur, der äußern Welt ein Theil ihres
Glanzes entzogen, und die epische Muse trat vor der lyrischen zurück. Andere Blumen,
tiefer gefärbt und von einem kräftigeren Wohlgeruch, gingen jetzt in dem Garten der Dicht-
kunst auf. In den klangreichen Liedern einer Sappho, eines Alkäus, einer Korinna, sprach
sich das innerste Gemüth tiefer Gefühle aus, die Seele trat in die äußere Gestalt, und auf
den Wellen des Wohllauts getragen, strömte das begeisterte Wort in die Herzen der Zuhörer
über und öffnete ihnen, indem es sie in ihren Tiefen bewegte, ihre innerste Welt. Wie nun
die Lyrik den Menschen, indem sie ihn in sich hinabdrängt, über sich selbst erhebt, so bedarf
sie auch einer tieferen, gedrängteren und schwebenderen Sprache, wie die Aeolische und Do-
rische war, die eben so das eigenthümliche Organ der Lyrik wurde, wie die Jonische das
Organ der epischen Poesie. Derselbe Charakter größerer intensiver Kraft, der sich in den
volleren Lauten, den tieferen Tönen und den härteren Wortformen des Dorismus ankün-
digt, empfahl ihn auch, wie es scheint, in Verbindung mit seiner Alterthümlichkeit — denn
er war von der ursprünglichen Sprache Griechenlands am wenigsten abgewichen —, der
Pythagoräischen Schule, obschon ihr Stifter ein Ionier war; indem der hohe und begeisterte
Stil dieser Schule eben so der Lyrik entsprach, wie die phantasireude Physik der Jonischen
Weisheit der epischen Dichtkunst verwandt war.
Aber noch waren die Tugenden dieser früheren Perioden nur eine einseitige Vortresf-
lichkeit. Das männliche Alter kam mit dem Flore der Attischen Zeit, und mit ihm schloß
sich der Kreis der Kunst. Hier fanden die einzelnen Strahlen der Vortrefflichkeit ihren Mit-
telpunkt. Die heitere Ausführlichkeit der Jonischen Epik und die tiefe Fülle der Dorischen
Lyrik trafen im Drama zusammen, in welchem sich der epische Stoff der Zufälligkeit ent-
ledigte/ und die subjective Einseitigkeit des lyrischen Gedichtes durch seine Vermählung mit
dem dramatischen Stoff eine objective Allgemeinheit erhielt. So wie die Poesie in dieser ihrer
höchsten Blüte, so ward in Attika alles und jedes, was in früheren Zeiten und in anderen
Gegenden von Griechenland begonnen hatte, zur Vollendung gebracht. Hier trat die Prosa
mit der Verskunst in die Schranken und erfand einen eigenthümlichen Silbentanz, durch