1877 -
Stuttgart
: Heitz
- Autor: Borberger, Robert, Nösselt, Friedrich
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1832
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Höhere Töchterschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Töchterschule
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Mädchen
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Qualen überliefern, als wenn ich noch jung und rathlos wäre, wie damals.
Küster, Ihr könnt nicht so ruchlos sein, mir meinen armen Schelm und
Schächer verrathen zu wollen."
„Gebt Euch zusrieden," sagte der Küster gerührt, „ich verspreche Euch,
nichts zu sagen. Es war ja auch möglich, daß ich ihn nicht sah, daß ich
ihn nicht erkannte; ich habe mich auch wohl geirrt, und der Leidende ist ein
ganz anderer. Es ist finster bei Euch, meine Augen sind nicht die besten."
„Recht!" rief die Alte, „wir wollen uns beide recht tüchtig etwas vor-
lügen, um nur gute, milde Christen zu bleiben, um uns durch die Wahrheit
nicht zu Henkersknechten zu machen. Ihr seid besser, Herr Wundrich, als ich
geglaubt habe. Haltet Euch wacker, und ich werde Euch immer danken."
Jetzt nahm der Küster von der Alten, die mehr beruhigt schien, Abschied.
Die Alte begleitete ihn, und als sie auf den Gang kamen, lief die Ziege
vom Hofe zu ihnen, und drängte sich schmeichelnd an Gertrud. Diese machte
die Hausthüre auf, um den Besuch zu entlassen; aber obgleich die Alte ihre
Ziege bei den Hörnern festhielt, so sprang diese doch vor dem Küster vorbei
und auf die Straße hinaus. Die alte Frau lief ihrer Ziege nach, rief und
lockte, nannte sie mit den zärtlichsten Namen, und der Küster half, so gut
er konnte. Das Haus ward verschlossen, aber die Ziege war schon in die
nächste Gasse gerathen, und die Alte winkte dem Geistlichen, ihr zu folgen
und den Flüchtling einsangen zu helfen.
Der Küster wurde immer verlegener. Er wollte der Alten, die ihm als
eine fromme, fast heilige Frau erschien, nicht einen Dienst versagen, und
doch fürchtete er, in dieser Treibjagd lächerlich zu erscheinen, da sich schon
einige junge Buben aus den Häusern versammelten, um der Alten und ihrer
Ziege nachzulaufen. Seine Gutmüthigkeit siegte dennoch über seine Aengst-
lichkeit, und er rannte in die andere Gasse, um die Ziege der schreienden
Alten entgegen zu scheuchen. Die kluge Ziege aber, als wenn sie diesen
Kriegsplan begriffe, rannte wieder in eine andere Nebengasse, um diese Ab-
sicht zu vereiteln. Da ein Halloh in diesem abgelegenen Viertel der Stadt
ertönte, sammelten sich immer mehr der müßigen Jungen, die theils der
Alten, theils der Ziege nachliefen. Am schlimmsten aber wurde es, als eine
ganze Schule aus einem finstern Hause brach und den Tumult zur Reise
brachte. Einige der größern Jungen kannten die alte Getrud und schrieen:
Hexe! Hexe! Andere riefen: Ihr Kobold, die Ziege ist ihr weggelaufen!
Halloh! Halloh! Andere riefen dazwischen: Der Beschwörer, der Hexenmann
ist auch gekommen! Auf sie drein! auf die Sünder! — Der Küster wollte
sich in Autorität setzen und rief: „Still, ungezogene Bengel! Ich bin der
Küster von der Kathedrale! Die fromme Gertrud ist eine stille, wohlthätige,
heilige Frau! Ich werde Euch, boshaftes Gesindel, der Strafe überliefern!"
Das Getümmel aber war schon so laut geworden, daß seine Ermah-
nung wie sein zürnendes Wort erfolglos verhallte. Einer von den Buben
warf mit Obst nach der alten Frau; der Apfel flog tönend an ihren Rücken,
und ein allgemeines Gelächter jubelte. Hieraus griffen einige zu Steinen,
und Wundrich wie Gertrud wurden von größeren und kleineren getroffen.
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