1877 -
Stuttgart
: Heitz
- Autor: Borberger, Robert, Nösselt, Friedrich
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1832
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Höhere Töchterschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Töchterschule
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Mädchen
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fand ihn am Grabe der Verklärten, und niemals ohne Zweig oder Blume
aus dem eignen Gärtchen."
„Von jetzt an wurden die Stellen aus Klopstock's Messias, welche die
Verstorbene wenige Wochen zuvor mit ihm gelesen hatte, ihm zur Lieblings-
unterhaltung. Sein kräftigster Trost aber waren der Engländerin Elisabeth
Rowe Sendschreiben von Verstorbnen an Lebende, weil sie den Glauben in
ihm befestigten und stärkten, daß es den Geistern der Abgeschiedenen vergönnt
sei, die Pfade der Hinterbliebenen segnend und mitwisfend bis zur Wieder-
vereinigung zu umschweben. Die Eltern trauerten in sich gewendet und
schweigend. Niemand vermochte dem greisen Vater nach der Trennung vom
Liebling seines Herzens noch ein Lächeln abzugewinnen. Er überlebte die
einzige Tochter nur wenige Wochen. Sein Hinscheiden erfolgte 1773 mit
den fallenden Blättern. Die lauten Klagen der Pfarrkinder, von denen er
die meisten getauft, confirmirt und. getraut hatte, waren die schönsten Lob-
reden des Unbescholtenen und Gesegneten. Da Friedrich fast jeden Tag da-
von Zeuge sein konnte (denn er war oft sein Begleiter zu Hilfsbedürftigen
und Kranken), wie der Verewigte gleich einem Schutzgeiste in der Gemeinde
waltete, und wie diese dagegen wieder von ihrer Seite mit jedem Tage ein-
müthiger darauf bedacht war, durch Erfreulichkeiten niancher Art sich ihm
dankbar und liebreich zu erweisen, so bildete sich nach und nach in seinem
Gemüthe der fest bestehende Wunsch, daß ihm das Loos eines Dorfpredigers
fallen, und er dieses Loos im unbeneideten und geräuschlosen Wirkungskreise
des Großvaters würdig erfüllen möge." —
Tod des alten Großvaters Eberhard Stilling*).
Ein altes Herkommen war, daß Vater Stilling alle Jahre selbst ein
Stück seines Hausdaches, das von Stroh war, eigenhändig decken mußte.
Das hatte er nun schon acht und vierzig Jahr gethan, und diesen Sommer
sollt' es wieder geschehen. Er richtete es so ein, daß er alle Jahre so viel
davon neu deckte, soweit das Roggenstroh reichte, das er für dies Jahr ge-
zogen hatte.
*) Diese einfach schöne Schilderung ist von dem Enkel des alten Eberhard,
dem 1817 in Carlsruhe als Geheimen Hofrath gestorbenen Jung-Stilling.
Dieser war aus dem Nassauischcn, wo sein Großvater ein Kohlenbrenner und sein
Vater ein Schneider und Dorfschulmcister war. Auch er sollte ein Schneider
werden; aber seine Lust trieb ihn, ein Schullehrer-Amt anzunehmen. Doch gab
er dies wieder auf, weil es ihm noch an Geschick fehlte, und dieser Stand damals
in seiner Heimath noch nicht die nöthige Versorgung gewährte, und ergriff das
Handwerk auf's Neue. Dabei lernte er so fleißig, daß er Hauslehrer werden konnte.
Der Vater seiner Braut lieh ihm das Nöthige, um in Straßburg Medicin zu
studircn, wo er mit Göthe Freundschaft schloß. Er wurde nachmals ein berühmter
Arzt, besonders Augenarzt, und war zugleich ein ausgezeichnet braver Mensch. Um
unbemittelten Augenkranken zu helfen, unternahm er nicht selten unentgeltlich
weite Reisen, und beschenkte die Kranken noch dazu. Nur ist zu bedauern, daß
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