1. Bd. 1
- S. 139
1911 -
Straßburg
: Straßburger Dr. und Verl.-Anst.
- Hrsg.: Gottesleben, N.
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
Iii. Die heimatliche Flur im Jahreslaufe.
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oft er es schon versucht hat. Endlich! Sieh, da kommen seine eigent-
lichen Flügel hervor! Das sind feine Häutchen, wie bei einer Fliege,
aber größer. Er kann sie nicht gleich in Ordnung bringen; doch jetzt
ist's gut, hin fliegt er; hör' nur, wie er summt!
Aber wo bleibt er denn? Ah, dort fliegt er ins frische Eichen-
laub. Da setzt er sich auf ein Blatt, das ist sein Eßtisch, und das
Blatt über ihm ist sein Sonnenschirm. Was wird ihm denn aufgetragen?
Nichts, gar nichts; er verzehrt den Eßtisch selber. Ein Blättlein und
noch eins könnte man ihm schon gönnen; aber wo so viel tausend Mai-
käfer zehren, da werden die armen Bäume doch schier so ausgeplündert,
daß es ein Jammer ist, sie anzusehen.
Besonders an schönen, warmen Abenden fliegen die Maikäfer leb-
haft umher, um Nahrung zu suchen, und erst in später Nacht begeben
sie sich zur Ruhe. Am frühen Morgen sowie an rauhen Tagen fliegen
sie nicht; dann hangen sie mit angezogenen Beinen lose an den Pflaumen-
und den Kirschbäumen unserer Gärten oder an den Eichen, Roßkastanien
und andern Bäumen. Zum Glück kommen die Sperlinge den Bäumen
zu Hilfe und stechen und spießen unter den Räubern herum, daß ihnen
Hören und Sehen vergeht; die Hühner aber können's noch besser. Auch
den Fledermäusen sind die Maikäfer, wenn sie abends umherschweifen,
fette Leckerbissen.
Gibt es aber ein paar frostige Nächte oder kalte Regenschauer, so
werden die Maikäfer steif und starr und fallen zu Tausenden aus die
Erde und sterben wohl gar vor Kälte. Der Landmann und der Gärtner
haben darüber herzliche Freude. Sie sammeln von diesen schädlichen
Tieren so viele, als sie nur finden können, und schütteln sie frühmorgens,
wenn sie noch halb erstarrt sind, von den Zweigen der Bäume. Läßt
man die Maikäfer ruhig das Laub abfressen, so ist an eine Obsternte nicht
zu denken. Die Bäume müssen dann alle ihre Kräfte verwenden, um neue
Blätter hervorzubringen, ohne welche sie im Sommer nicht bestehen können.
2.
Da du die Maikäfer nur im Mai siehst, könntest du leicht glauben,
ihr Leben währt nur einen Monat. O nein, bereits vor drei Jahren
lebten die Tierchen, die du jetzt fliegen siehst! Damals schlüpften sie
aus den weißen Eierlein, welche die Maikäferweibchen in das lockere
Erdreich gelegt hatten, aber nicht als Käfer, sondern als Tierchen, die
weißen Raupen gleichen. Diese Larven, auch Engerlinge genannt, ließen
es sich in ihrem dunkeln Gefängnis unter der Erde ganz wohl sein.
Mit ihren kräftigen Kinnbacken zerfraßen sie alle Wurzeln, die sie fanden,
von den feinen Fasern des Getreides, Kohls oder Salats bis zu den
starken Wurzeln der Bäume.