1910 -
Frankfurt a.M.
: Auffarth
- Autor: ,
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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19. Das Glück durch die Gelbwurst.
Bertholt» Auerbach.
Schatzkästlein. 6. Auflage. Stuttgart 1875. S. 17.
Der alte Tuchfabrikant Keller pflegte gern folgende Geschichte zu
erzählen:
Ich war erst kurze Zeit aus der Fremde zurück und hatte mein
eignes kleines Geschäft angefangen. Da war die Leipziger Ostermesse,
und ich reise hin und nehme einen Kreditbrief voll tausend Speziestalern
mit. Das war, wenn man alle Winkelchen zusammenkehrt, mein ganzes
Vermögen; ich war aber jung und gesund, und was glaubt man da
nicht mit tausend Speziestalern machen zu können. Ich reise also nach
Leipzig und gebe meinen Kreditbrief im Hause Frege und Comp. ab.
Der alte Frege läßt meinen Namen in sein Buch einschreiben und
wünscht mir gute Geschäfte. Ich sehe aber bald, daß sich mit tausend
Talern nicht viel machen läßt. Was tut's? Geht nicht viel, so geht
wenig; besser leiern als feiern, sagt das Sprichwort. Ich suche mir
also eine Partie Wolle aus und gehe hin, um mein Geld zu holen.
Da sagt mir der alte Frege, es sei gut, daß ich komme, er habe nicht
gewußt, wo ich logiere. Ich habe das nicht gern gesagt, da ich wieder
wie einst als Handwerksbursche in der Herberge wohnte. „Nun",
sagte der Herr Frege, „essen Sie morgen mittag bei mir, Sie werden
da noch große Gesellschaft finden." Ich konnte nichts Rechtes darauf
erwidern und gehe weg. Ich erkundige mich nun, was man bei einer
solchen Einladung zu tun hat und was dabei herauskommt. Man
sagt mir, daß es Sitte sei, daß jedes große Handelshaus seine
Empfohlenen durch eine Einladung, wie man sagt, abfüttert; daß nicht
viel dabei herauskommt, als daß man das Essen teuer bezahlen muß,
indem es mindestens anderthalb Taler Trinkgeld an die Bedienten
kostet. Ich rechnete aus, daß mir von tausend Talern nur noch 998 V2
blieben, und für ein Mittagessen konnte ich nicht so viel aufwenden.
Andern Mittag war ich kurz entschlossen. Ich kaufe mir für zwei
Groschen Gelbwurst, für sechs Pfennig Brot, stecke es zu mir und gehe
hinaus vor das Tor in das sogenannte Rosental. Mein Tisch war
schnell gedeckt. Ich setze mich auf eine Bank und wickle meine Sachen
heraus, ich zerschneide die Gelbwurst in sechs Teile und lege sie neben
mich hin; das, sage ich, ist meine Suppe, das mein Fleisch, das mein