1913 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
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145. Aus der Wanderzeit des deutschen Volkes.
(360 n. Chr.)
Gustav Freytag.
Im ersten Morgenlicht standen die Wagen mit Saatkorn und
Hausrat bepackt. Über dem festen Bohlengefüge spannte sich die Decke
von Leder. Die gejochten Rinder brüllten. Frauen und Binder trieben
das Herdenvieh hinter den Wagen zusammen, und große Hunde, die
treuen Begleiter der Fahrt, umbellten das Fuhrwerk. Die Geschlechts-
genossen und Nachbarn trugen zum Abschied herzu, was als Reisekost
diente oder ein Andenken an die Heimat sein konnte. Durchaus nicht
fröhlich war der Abschied; auch dem mutigen Manne bangte heimlich
vor der Zukunft. War das neue Land auch nicht endlos weit, fast
allen war es unbekannt, und unsicher war, ob die Götter der Heimat
auch dort Schutz gewährten. Auch die Kinder fühlten das Grauen; sie
saßen still aus den Säcken, und die Kleinen weinten, obgleich die Eltern
ihnen Haupt und Hals mit heilkräftigem Kraut umkränzt hatten, das
den Göttern lieb ist. Mit der aufgehenden Sonne erhoben sich die
Fahrenden. Der Älteste ihres Geschlechts oder eine weise Mutter sprach
ihnen den Reisesegen, und alle flehten murmelnd um gutes Glück und
bannten durch Zauberspruch die schädlichen Waldtiere und schweifende
Räuber. Die anderen Dorfleute aber, welche daheim blieben, blickten
scheu auf die Wanderer, wie auf verlorene Menschen; unheimlich dünkten
ihnen die Frevler, welche sich von dem Segen der Heimat lösten. Denn
immer zog es die Landgenossen mächtig nach der Ferne, und doch
graute ihnen immer vor einem Leben fern von den Heiligtümern, von
Sitte und Recht der Heimat.
Die Wagen bewegten sich knarrend zu den Bergen; von der Höhe
sahen die Wanderer noch einmal nach dem Dorf ihrer Väter zurück und
neigten sich grüßend gegen die unsichtbaren Gewalten der Flur; dann
nahm alle der Bergwald auf. Mühsam war die Fahrt auf steinigen
Wegen, in welche das Schneewasser tiefe Furchen gerissen hatte. Oft
mußten die Männer von den Rossen steigen und mit Haue und Spaten die
Bahn fahrbar machen. Wild erscholl Ruf und Peitschenschlag der Treiber.
Die Knaben sprangen hinter den Wagen und hemmten den Rücklauf
durch Steine, und doch zerrten die Zugtiere machtlos, bis ein Gespann
dem anderen half oder Männer und Frauen die starken Schultern an die
Räder stemmten. War die Reise wegsamer, dann umritten die Männer