1912 -
Hannover
: Norddt. Verl.-Anst. Goedel
- Autor: Kippenberg, August, Rosteutscher, Waldemar
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten, Mädchenschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Mädchenmittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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er entweder verhungern oder versuchen mußte, ohne jemandes Hilfe
hinabzusteigen. Der Missetäter unterwarf sich voll Reue diesem
harten Spruche und beharrte sogar dabei, obgleich man angesichts
seiner Zerknirschung und um seines hohen Alters willen das Urteil
mildern wollte. Er wurde auf den Turm gebracht und begann vor
den Augen der versammelten Volksmenge mit Angst und Zittern
den gefährlichen Abstieg. Bald kam er an ein steinernes Geländer,
wo er nicht weiter konnte. Er konnte weder vorwärts noch rück-
wärts und mußte Stehenbleiben. Zehn Tage und zehn Nächte stand
der arme alte Mann da oben zur Schau, ohne Obdach, ohne Speise
und Trank und nagte vor wütendem Hunger das eigene Fleisch von
den Händen und Armen. Endlich erbarmte sich seiner der Tod. Her-
nach wurde sein steinernes Abbild nebst dem der Dohle auf die
Stätte seiner Qual gesetzt. Nach einigen Jahren hat es ein Sturm-
wind herabgeweht; aber der Kopf davon soll noch auf dem Rathause
Zu Sehen sein, Seide Exner.
302. Das Gottesgericht in Neiße.
Vor sehr langer Zeit lebte in Neiße ein habsüchtiger, gewissen-
loser Mann. Er borgte sich einmal von einem reichen Fleischer
dreihundert Dukaten. Als dieser sie wiederverlangte, so behauptete
jener, er habe sie ihm schon zurückgegeben. Aber der Fleischer
verklagte den treulosen Schuldner, und das Gericht verlangte von
diesem, er müsse seine Aussage beschwören. Er zeigte sich sehr
bereitwillig dazu, reichte einen dicken, schweren Stock, den er
trug, seinem Gläubiger hin und bat ihn, er möge ihm solchen indes
halten, damit er die Hände frei habe.
Es war aber ein ausgehöhlter Stock, und der Mann hatte die
schuldigen dreihundert Dukaten hineingetan. Daher meinte er, er
könnte jetzt der Wahrheit gemäß beschwören, daß er dem Kläger
das Geld wiedergegeben habe, und er leistete mit heiterer und
ruhiger Miene den feierlichen Eid. Hierauf ließ er sich seinen
Stock zurückgehen und verließ fröhlich das Gerichtszimmer zum
größten Erstaunen des betrogenen Fleischers.
Aber er sollte sich seines ungerechten Gewinnes nicht lange
erfreuen. Als er über die Stiege hinabging, glitt ,er aus und stürzte
hinab. Der Stock zerbrach, die dreihundert Dukaten rollten heraus,
und sein Betrug kam an den Tag; er selbst aber brach das Genick
und starb so eines jähen Todes. Heide Exner.