1912 -
Hannover
: Norddt. Verl.-Anst. Goedel
- Autor: Kippenberg, August, Rosteutscher, Waldemar
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten, Mädchenschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Mädchenmittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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kaufte sich ein anderes Pferd. Weil aber der Schimmel noch gar nicht
alt war, so lebte er noch viele Jahre nach jenem Ritte. Da gab ihm
der Herr zuletzt nur eine Metze des Tages, und da ihm auch dies zu
viel schien und kein Mensch etwas für den Schimmel geben mochte,
befahl er seinem Knechte, den Schimmel wegzujagen. Der nahm einen
Prügel, weil das Pferd nicht weichen wollte, und trieb es aus dem
Stalle. Da blieb es sieben Stunden am Tore stehen mit niedergebeugtem
Kopfe und spitzte seine Ohren, wenn etwas im Hause sich regte. Die
Nacht schlief es daselbst auf den harten Steinen, während es kalt war
und schneite. Endlich trieb der Hunger das Tier wegzugehen; aber
weil es blind war, so stieß es überall an. Mit seiner Nase roch es
links und rechts, ob nicht irgendwo ein Hälmchen Stroh liege, doch es
fand nur wenig.
Es war aber in selbiger Stadt ein Glockenhaus, das stand Nacht
und Tag offen. Man hatte es gebaut, um Unrecht zu verhindern.
Denn wenn jemand meinte, es geschehe ihm Unrecht von einem andern,
so ging er hin ins Glockenhaus, faßte an den Glockenstrick und läutete
Sogleich kamen die Richter der Stadt zusammen und richteten. Zufällig
tappte auch der Schimmel in dieses Glockenhaus hinein, und da er mit
seinen Lippen alles beschnüffelte und aus Hunger mit seinen Zähnen
alles benagte, so fand er auch den Strick, faßte ihn mit den Zähnen
und fing an zu läuten. Bald kamen die Richter und sahen den
Schimmel als Kläger. Da sie wohl wußten, wie große Dienste der
Schimmel seinem Herrn getan hatte, so ging ihnen die Sache zu Herzen.
Sie ließen Usedom rufen, der sich nicht wenig wunderte, als er seinen
Schimmel an der Klageglocke sah. Er wollte sich über seine Hartherzigkeit
rechtfertigen; allein die Richter fällten folgendes Urteil:
„Die Rügeglocke hat getönt,
der Kläger stehet hier;
durch nichts wird Eure Tat beschöut,
und so gebieten wir,
daß Ihr sogleich das treue Pferd
in Euren Hausstall führt
und bis ans Ende pflegt und nährt,
wie's Euch als Christ gebührt."
So mußte der Kaufmann den Schimmel wieder zu sich nehmen;
es ward auch ein Mann gesetzt, der bisweilen nachsah, ob der Schimmel
etwa Not litte. An dem Glockenhause bildete man aber in Stein zum
Andenken die ganze Geschichte ab.
Volkssage. (Erzählt von Wilhelm Harnisch.)