1910 -
Leipzig [u.a.]
: Klinkhardt
- Autor: Tromnau, Friedrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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Der kluge Sultan.
kam und das freundliche Antlitz seines Vaters sah, da vermochte er
nicht, wieder freundlich zu ihm hinaufzusehen. Venn er dachte: ,,wie
sollte ich ihn fröhlich ansehen können, den ich betrübt habe? Kann
ich doch mich selber nicht anblicken. L§ liegt mir wie ein dunkler
Schatten in meinem herzen." —
Jetzt trat der Vater herzu und reichte jeglichem seiner Kinder
von den Früchten des herbstes, und Gotthold desgleichen. Da hüpften
die Kinder herbei und freueten sich sehr und aßen. Gotthold aber
verbarg sein Angesicht und weinte bitterlich. Va hub der Vater
an und sprach: ,,Mein Kind, was weinest du?" — Und Gotthold
antwortete: ,,Uch! ich bin nicht wert, daß ich dein Kind heiße. Ich
kann es nicht länger tragen, daß ich vor dir ein anderer erscheine,
als ich bin und mich selbst erkenne. Lieber Vater, tue mir ferner
nicht mehr Gutes, sondern strafe mich, damit ich wieder zu dir kommen
darf und aufhöre, mein eigener Lsuäler zu sein. Laß mich nur hart
büßen für mein vergehen,- denn siehe, ich habe die jungen Bäumchen
beraubt." Va reichte ihm der Vater die Hand, drückte ihn an sein
herz und sprach: ,,Ich vergebe dir, mein Kind! Gebe Gott, daß
dieses das erste und letzte Mal sei, daß du etwas zu verhehlen hast,
vann soll es mir nicht leid sein um die Bäumchen."
77. Oer kluge 8u1tun.
Johann Peter Hebel.
Zu dem Großsultan der Türken trat, als er eben an einem
Freitage in die Kirche gehen wollte, ein armer Mann von seinen
Untertanen, mit schmutzigem Barte, zerfetztem Rocke und durch-
löcherten Pantoffeln, schlug ehrerbietig die Ärme kreuzweise
übereinander und sagte: „Glaubst du auch, großmächtiger Sul-
tan, was der heilige Prophet sagt?“ Der Sultan, der ein gütiger
Herr war, sagte: „Ja, ich glaube, was der Prophet sagt.“
Der arme Mann fuhr fort: „Der Prophet sagt im Alkoran: Älle
Muselmänner sind Brüder. Herr Bruder, so sei so gut und teile
mit mir das Erbe.“ Dazu lächelte der Kaiser und dachte: „Das
ist eine neue Art, ein Almosen zu betteln,“ und gibt ihm einen
Löwentaler. Der Türke beschaut das Geldstück lange auf der
einen Seite und auf der anderen Seite. Am Ende schüttelt er
den Kopf und sagt: „Herr Bruder, wie komme ich zu einem