1914 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: ,
- Hrsg.: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
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bloß auflauert und sie etwa von den Sulzen wegschießt, sondern wo
er das weidende Tier aus höchst schwierigen Wegen umgeht, oder wo
er es förmlich jagt und verfolgt. In gewissen steilen Gebirgen ist ein
solcher Gang immer ein Gang auf der schmalen Grenze zwischen Tod
und Leben. Ein augenblickliches Niedersehen in die Tiefe vom schmalen
Felsengesimse, ein fallender Stein, ein loses Strauchwerk, an das der
Kletternde sich hält, alles wird zur Todesursache, und nur die
unbedingteste Geistesgegenwart rettet vielleicht noch den Bedrohten. Oft
aber verleitet das hitzig verfolgte Wild den Jäger zu Unbesonnenheiten
und lockt ihn auf Felsen hinauf, wo er nicht mehr vorwärts noch
rückwärts kann.
3.
Außer diesen Mühsalen bietet dem Eemsenjäger die Beschaffenheit
seines Jagdreviers unter Umständen noch zahllose andere, so daß der
oft ausgesprochene Satz: ,,Es sterben mehr Gemsenjäger gewaltsam im
Gebirge als eines natürlichen Todes im Bette" — nur zu wahr ist. Bald
überrascht den müden Weidmann ein bitterer Frost und faßt lähmend
seine erschlafften Glieder. Folgt er einer ihn fast überwältigenden
Neigung zum Niedersitzen, so schläft er alsbald ein, — um nicht
wieder aufzuwachen. Bald schlägt ihn herabrollendes morsches Gestein,
das der Sturm, der Tau oder die kletternde Gemse abgelöst hat, in
den Abgrund oder verwundet ihn, oder er hört von fern über sich den
rauschenden Gang der Lawine, und ehe er sich umgesehen und hart
an den Felsen gedrückt hat, hüllt ihn die Bergfee donnernd in ihren
flatternden Schneemantel und begrübt ihn vielleicht eine Stunde tiefer mit
zerschmetterten Gliedern im Talkessel. Vielleicht der gefährlichste Feind
ist aber der Nebel, wenn er den Jäger viele Stunden hoch über den
letzten Wohnungen der Menschen in dem grauenvollen Labyrinth der
zerrissenen Felsenfirste überrascht. Er fällt dann oft so dicht ein, daß
der verlorene Mann nicht sechs Fuß weit vor sich sieht, und nur die
größte Kaltblütigkeit, genaue Kenntnis des Terrains und ausdauernde
Körperkraft retten ihn, daß er nicht in eine Gletscherspalte fällt, über
eine Felsengalerie stürzt oder auf den feuchten Steinplatten ausgleitet,
besonders da dem Nebel oft ein dichtes Schneegestöber mit Sturm folgt,
das die Sicherheit des Pfades nicht mehr berechnen läßt.
Der eigentliche Jagdgewinn steht heutzutage in keinem Verhältnis
mehr zu all den Gefahren, Mühen und der verlorenen Zeit, die feine
Erlangung fordert, und doch sind die Jäger so leidenschaftlich aus die
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