1914 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: ,
- Hrsg.: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
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der Boden wird hart. Da werden die Blätter und Stengel der Pflanzen
gelb, und endlich erscheint die ganze Steppe braun wie durch Feuer
verbrannt. Doch hat das Steppengras durch die Entfärbung nicht feine
Nährkraft eingebüßt, und es beginnt nun, ehe die Pflanzen völlig zu
Staub zerfallen, die Heuernte in der Steppe. Da kommen aus den
Dörfern und Städten die Menschen zu Tausenden mit Fuhrwerk aller
Art, und alles mäht und ladet auf und fährt heim nach Kräften, und
um jedes Bauernhaus erheben sich dann hohe Heuhaufen, welche den
Wintervorrat enthalten. Die Kasernen entsenden ganze Compagnien
zur Heuernte in die Steppe. Die stärksten Stauden werden aber in
besondere Bündel gebunden und bilden dann bei dem Mangel an Holz
in vielen Häusern das ausschließliche Brennmaterial. Dem vorbei-
fahrenden Reisenden erscheint es bei dem Anblick der Heuernte, als ob
die ganze Steppe herrenlos sei und jeder schneiden könne, wo es ihm
beliebt. Doch auch die Steppe ist längst verteilt, aber große Flächen
sind nicht Privateigentum geworden, sondern bilden gemeinsames Besitz-
tum einer ganzen Dorf- oder Stadtgemeinde. Hier darf jeder Erwachsene
des betreffenden Ortes sein Vieh weiden und seinen Wintervorrat holen.
Während dieser Zeit, wo das Steppengras dürr im Walde raschelt,
ertönt zuweilen in den Dörfern der Schreckensruf: „Die Steppe
brennt!" Ein schwarzer, dichter Rauch wälzt sich dann, vom Winde
vorausgetrieben, vor dem Feuer her, das laut knisternd, aber verhältnis-
mäßig langsam die harten Stauden verzehrt. Aber unaufhaltsam schreitet
es vorwärts, aufgescheuchte Vögelschwärme ziehen dem Rauche voran.
Schon manches Gehöft ist von einem solchen Steppenbrande verschlungen
worden, wenn der Sturm alle Rettungsanstalten vereitelte. Bei Wind-
stille wissen sich die Hirten in der Steppe und die bedrohten Dorf-
bewohner vor dem langsam näher kommenden Brande wohl zu retten;
Feuer muß gegen Feuer helfen! Sie zünden selbst die Steppe zu ihren
Füßen an und brennen das Gras in weitem Umkreise nieder, so daß
das große Feuer dann an eine leergebrannte Fläche kommt und in
weitem Bogen vorüberzieht. Ebenso findet es oft ein Ende an den
unglaublich breiten Steppenwegen, auf und an welchen die Ochsen der
Fuhrleute und die Herden der Viehtreiber alles Gras gründlich abgefressen
haben.
Oft hat auch schon ein anderer Feind der Steppe alles verzehrt,
was brennen könnte, dieser Feind sind die H euschrecken. Es vergehen
oft Jahre, ohne daß Heuschrecken in der südrussischen Steppe gesehen