1913 -
Hannover [u.a.]
: Carl Meyer (Gustav Prior)
- Hrsg.: Kappey, Heinrich, Koch, Hermann
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten, Volksschule, Mittelschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Evangelische Mittelschule, Gehobene evangelische Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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worfen würden, setzten die Knechte das schlafende Brüderpaar in
der plumpen Holzwiege im seichten Wasser aus und gingen von
dannen. Durch göttliche Fügung aber verlief sich bald die Flut,
und die Mulde stand auf trockenem Erdboden. Da lagen nun die
Königskinder, von allen Menschen verlassen, in der Wildnis, und als
sie aus dem Schlummer erwachten, trieb der Hunger sie an, kläglich
zu wimmern und zu schreien. Das hörte eine Wölfin, die in der
Öde umherstrich, und das Raubtier trottete herzu, sah die hilflosen
Kleinen und — verschlang sie nicht, sondern erbarmte sich ihrer
Not und bot ihnen kräftige Wolfsmilch zur Nahrung dar. Den
hungrigen Kindern mundete das Getränk wie Nektar und Ambrosia;
sie tranken sich satt, schliefen eine gute Weile und riefen dann
wieder durch klägliches Geschrei ihre rauhe Amme aus dem nahen
Walde herbei.
4. Nun geschah es, daß Faustulus, einer der Hirten Numitors,
von ungefähr in die Gegend kam und das Treiben der Wölfin be-
obachtete. Als das Tier sich wieder in den Wald zurückbegeben
hatte, eilte er herbei, sah die Kindlein in der Mulde und staunte
nicht wenig ob dem Wunder, das hier geschehen. Ihm war vor
wenigen Tagen sein einziges Söhnlein gestorben, hier aber lagen vor
ihm zwei hilflose Knäblein — sollte er das nicht als einen Wink
vom Himmel ansehen, diese Kinder zu sich zu nehmen? Und der
wackere Mann besann sich nicht lange; er hob die hölzerne Wiege
auf, schlug seinen Mantel darüber und eilte mit seinem Funde nach
Hause, um den Schatz seiner Frau Acca Laurentia zu übergeben. Mit
Freuden nahm die ihres Kindes beraubte Mutter die Zwillinge in
Empfang und pflegte sie in Liebe und Treue.
5. So wuchsen die Königskinder in der Strohhütte des Hirten
zu schönen, kräftigen Knaben heran, und jedermann hielt sie für
die Kinder des Faustulus, denn dieser hatte sein Geheimnis wohl
bewahrt. Er wie sein Weib blickte mit Stolz und Freude auf die
Zwillinge, die nicht gemeinen Wesens und Ansehens waren und in
den Spielen mit ihren Altersgenossen alle anderen besiegten. Größer
geworden, streiften sie mit Wurfspieß, Bogen und Pfeilen durch die
Wälder und brachten, ihrer Mutter zur Freude, manche leckere
Beute nach Hause. Und nicht bloß die wilden Tiere bekämpften sie,
sondern fielen auch über die Straßenräuber her, jagten ihnen ihre
Beute ab und verteilten diese unter die Hirten. Dadurch aber zogen
die tapferen Brüder sich die Feindschaft aller Wegelagerer zu, und
diese Gesellen sannen auf Rache.
6. Einstmals, als das junge Hirtenvolk dem Gotte der Fluren,
Pan, zu Ehren auf dem grünen Anger festliche Spiele beging, wurde