1911 -
Bielefeld [u.a.]
: Velhagen & Klasing
- Autor: Porger, Gustav, Wolff, Karl
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
3. Der eiserne Karl. Von Gotthold Klee.
Die alten Deutschen. 2. Ausl. Gütersloh 1903. S. 327.
Ais Karl der Große mit dem Langobardenkönige Desiderius
Krieg führte, lebte an dessen Hofe ein edler Franke namens
Otker, der vor Jahren vor Karls Zorn aus dem Frankenreich
entflohen war. Als nun die Kunde erscholl, Karl nähere sich mit
seiner ganzen Streitmacht der Stadt, stieg Desiderius mit Otker
auf einen hohen Turm, von dessen Zinnen man weit über die
Ebene schauen konnte.
Der Gepäcktroß rückte zuerst heran. „Ist Karl unter diesem
Heere?“ fragte der König. „Noch nicht,“ antwortete Otker. Nun
kam das Heer der Völker, die sich Karl unterworfen hatte. „Hier-
unter befindet sich doch Karl gewiß?“ sprach Desiderius; aber der
Franke versetzte: „Noch nicht!“ Da rief der König: „Was sollen
wir tun; wenn noch mehrere mit ihm kommen?“ „Ich weiß es
nicht,“ antwortete Otker finster. Indem zeigte sich eine neue
Schar, das waren die Bischöfe, Äbte und Geistlichen mit ihren
Knechten. „Darunter ist doch Karl?“ fragte Desiderius. Doch
Otker schüttelte das Haupt. Hierauf tauchte eine andere Schar auf,
das war des Frankenherrschers Hofgesinde. „Da ist Karl!“ rief
Desiderius. Aber Otker sprach: „Noch nicht, noch immer nicht.“
Da rief der König außer sich: „O so laß uns niedersteigen und uns in
der Erde Schoß verbergen vor dem Angesicht dieses schrecklichen
Feindes!“ Aber Otker starrte wie sinnberaubt hinaus in die Ferne
und sagte bebend: „Wenn es aufgeht wie eine eiserne Saat auf
dem Gefilde, und wenn es dich dünken wird, als wälzten Po und
Ticino dunkle, eisenschwarze Meereswogen gegen diese Mauern,
dann wisse, daß Karl naht!“
Und siehe, da stieg es im Westen auf wie eine finstere Wetter-
wolke, und als sie näher kam, da sah man es von funkelnden
Waffen blitzen; und nun ritt er daher, der eiserne Karl, bedeckt
mit eisernem Helm und Schild, umkleidet mit eisernen Schienen
und eisernem Panzer, in der Hand den hochragenden eisernen
Speer. Auch das Roß, das er ritt, schien eisern an Mut und an
Farbe. Und alle, die ihn umgaben, waren auf gleiche Weise aus-
gerüstet wie er. Eisen erfüllte die Felder und Straßen; die Sonnen-
strahlen brachen sich in dem Glanze des Eisens. Das alles sah
Otker mit einem einzigen Blick, wandte sich zu Desiderius und
schrie: „Sieh da! Dort hast du den Karl, nach dem du so viel
15*