1911 -
Breslau
: Hirt
- Autor: Nohl, Walter
- Hrsg.: Heider, Friedrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
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Friedrich geht allein", legte sich die Mutter besorgt in die Verhandlung.
Der Knabe heftete seine Blicke flehend auf des Vaters Gesicht, von dem er
alles Ente hoffte.
„Du bist freilich noch nie ohne mich gefahren; aber der Friedrich ist
zuverlässig. Willst du ihn lassen, Mutter?" — „Ungern", war die Antwort.
Hans aber hörte sie schon nicht mehr. Auf und davon war er und kletterte
eiligst auf das Brett vorn am Wagen und faßte die Leinen. „Leo, wir
fahren, hurra, Leo!" Und Leo sprang hoch auf neben dem Wagen,
der rasselnd die Landstraße entlang rollte. Es war ein stiller, milder
Wintertag. Wie vergnügt schaute Hans um sich, wie jauchzte er, als der
Wagen über die Brücke fuhr und die grünen, stillen Wellen leise rauschend
unter dem polternden Wagen davonzogen! Er hatte den Friedrich viel
zu fragen, und dieser war guter Dinge, bis sie im stattlichen W. einfuhren.
4. Früh breitet sich die Winternacht über die schweigende Flur.
Schüchtern blinkt da ein Sternlein und dort eins durchs Gewölk. Die
Wellen des Flusses rauschen geheinmisvoll unter dem Brückenbogen. Da,
was stört die Stille? Polternd und knarrend fährt der leere Müller-
wagen auf die Brücke. Der Friedrich ist auf dem Heimwege. Aber nicht
mehr stramm sitzt er auf dem Bocke, schwer hängt der Kopf vornüber.
Jni „Goldenen Kreuz" hat er gute Freunde getroffen. Der Wein funkelte
so rot und glühend; jetzt freilich macht er ihm den Kopf schwer. Was
tut's? Er ist ja bald daheim. Die Pferde finden den Weg im Dunkeln,
er läßt ihnen den Willen und hält die Zügel schlaff. Da, was ist das?
Es klingt wie ein Aufspritzen des Wassers, wenn ein schwerer Körper
hineinfällt, und jetzt ein Gurgeln der Wellen. Aber Friedrich hat nichts
gehört, er fährt weiter. Einer aber hals gehört und gesehen. Der Leo
hat im Nu begriffen, daß es sein kleiner Herr ist, der beim Anstoßen des
Wagens an einen Stein in weitem Bogen über das Geländer fliegt und
ins Wasser fällt. Ein Sprung, und seine mächtigen Tatzen teilen die
Flut. Leo rudert tapfer pustend weiter. Seine Augen durchdringen
das Dunkel, er sieht den schwarzen Körper des Knaben, er faßt ihn
mit der Schnauze fest am Rücken, beißt sich in das Tuch des Ramses und
schwimmt dem Ufer zu. Er zieht, zerrt, schleift, bis er den kleinen, stillen
Körper oben auf dem Uferrande hat. Da leckt er das Gesicht, die Hände,
winselt und wedelt, riecht und schnuppert. Hans will nicht erwachen.
Da stößt Leo ein mächtiges Geheul aus, daß es weit schallt wie ein Feuer-
horn über die Ebene. Alles still! Da legt er sich hin über den Knaben
— seine warmen Tatzen decken die nasse Brust — und hält Wacht. Jst's
Totenwacht? Von Zeit zu Zeit wiederholt er sein machtvolles Geheul,
Heider und Nohl, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. Ii. Teil. 14