1889 -
: Velhagen & Klasing
- Hrsg.: Supprian, Karl, Gabriel, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Gehobene Schule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
Weil er das Tier nicht verfolgte, so wurde es täglich dreister.
Es kehrte sich nach einiger Zeit gar nicht daran, dass Herr Wilhelm
im Saale war, oder etwa darin auf- und abging; es kam ihm sogar,
wenn er an seinem Tische schrieb, dicht an die Füsse, ohne durch
die Bewegungen, die er beim Schreiben machte, schüchtern zu
werden.
Neben dem Schreibtische, an welchem Herr Wilhelm arbeitete,
stand ein Gestell mit einigen Büchern und eine offne Zuckerdose.
Das Mäuschen hatte die Zuckerdose bald ausgespürt und kam nun
jeden Abend, um von dem Zucker zu naschen. Sonderbar war es,
dass es niemals am Tage über die Dose ging, wiewohl sie doch
beständig offen stand.
Nach einiger Zeit schloss Herr Wilhelm die Dose und legte der
Maus ein einzelnes Stückchen Zucker hin, das sie auch richtig jeden
Tag verzehrte. Sie lief dabei hin und her und guckte zuweilen
hinter dem Gestelle vor auf Herrn Wilhelms Tisch.
Jetzt legte Herr Wilhelm nur ein ganz kleines Stückchen
Zucker auf den gewöhnlichen Ort und ein grösseres auf die Ecke
des Tisches, an welchem er schrieb. Sobald es Abend war, kam
das Mäuschen; es frais das kleine Stückchen Zucker; es fand auch
das grössere Stück, es sprang keck auf den Tisch und sah eine Zeit
lang Herrn Wilhelm mit hellen Augen an, machte sich dann über
den Zucker her, benagte ihn mit scharfen Zähnen und ver-
zehrte ihn.
Seit dieser Zeit wurde das Stück Zucker alle Abend auf den
Tisch gelegt, und sobald Herr Wilhelm mit seinem Licht am Tisch
sass und schrieb, so stellte sich pünktlich das Mäuschen ein.
knabberte an dem Zucker, lief auf der Ecke des Tisches umher, sah
Herrn Wilhelm furchtlos an, sprang auf das Gestell, dann wieder
auf den Tisch, um den Zucker weiter zu verzehren, lief auch wohl
in dem Saal umher, kam bald wieder und liess sich nicht im min-
desten stören. Doch blieb es, so oft es auf dem Tische war, immer
in einer gewissen Entfernung von dem Papier, auf welchem Herr
Wilhelm schrieb.
Herr Wilhelm hatte sein Vergnügen an dem kleinen kecken
Geschöpfe und hoffte es noch so zahm und zutraulich zu machen,
dass es aus seiner Hand fressen sollte. Aber diese Freude hatte er
nicht. Der grosse graue Hauskater, der überall umherschlich, fand
eines Tages die Thüre des Saales auf, schlich sich hinein, fing das