1911 -
Breslau
: Hirt
- Hrsg.: Heider, Friedrich, Nohl, Walter
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
6
Aber er kam den folgenden und auch den nächstfolgenden und
auch den dritten Tag mit geradezu blamablem 4 Wohlsein zur Schule.
Da — am Abend des vierten Tages — da kam etwas, aber nicht die
Masern. Er sah bei seiner Schularbeit und machte beim großen „G"
eine ganz ungeheure Schleife, die weit übers Ziel hinausging, und
es war ihm ganz gleichgültig, wie weit sie ging. Und dann war
es ihm noch gleichgültiger, wie weit der nächste Buchstabe in den
Himmel hinaufstieg, und dann lieh er die Feder aufs Papier fallen.
Er fühlte sich unendlich matt und schlief auf seiner Arbeit ein. Aber
nach einigen Sekunden fuhr er heftig empor; es war ihm, als wäre
er tief hinabgestürzt. Nun umspannte ihm ein dumpfer Schmerz den
Kopf, und ihn fror entsetzlich. Als die Mutter ihn auf sein Bitten
zu Bett brachte, flog er am ganzen Leibe, dah die alte, kleine, wurm-
stichige Bettstelle knackte, und dann kam ein heftiges Erbrechen.
Darauf schlief er ein. Folgenden Tages lag er den ganzen Tag
schweigend in seinem Bette; aber abends begann er zu fiebern. Einen
Arzt zu befragen, kostete Geld, und da Rebekka Semper, die Mutter,
im Kieler Krankenhause eine ganze Menge Medizin studiert hatte,
so sagte sie: „Er kriegt die Masern" und gab ihm Lindenblütentee.
Aber es war nicht das Richtige. Er fieberte am nächsten Tage stärker,
und am dritten phantasierte er. Da wurde der Arzt Doktor Ollsen
geholt; der verordnete kühles Zimmer, kalte Bäder und etwas, was
sehr bitter schmeckte. Am Tage darauf klagte Asmus, er könne nicht
schlucken, und die Augen täten ihm so weh, und in seinem Gesicht
zeigten sich rote Knötchen und Flecke „Ja, er kriegt die Masern",
sagte Frau Semper; als aber der Arzt kam, da sagte er: „Es sind die
Pocken."
2. Es dauerte auch nur kurze Zeit, so war der ganze kleine Asmus
mit Pocken übersät; auch im Munde und auf der Hornhaut des Auges
waren sie hervorgekommen. Als er endlich Pocken genug hatte,
fühlte er sich ein wenig wohler, und er sprach ab und zu leise mit
Eltern und Geschwistern. Und dann ging die eigentliche Krankheit
los. Der Arzt sagte: „Es sind richtig die schwarzen Blattern ge-
worden", und kam jetzt zweimal am Tage. Die Mutter muhte das
ganze Männlein in Tücher mit Salben einschlagen und ihm kalte
Tücher auf die Augen legen, und das Zimmer muhte ganz dunkel
gemacht werden. Das Männlein lieh sich alles stumm gefallen;
nur abends ward es gesprächig. „Ich hab' mich verlaufen", rief es,
„o Gott, o Gott, ich hab' mich verlaufen; warum habt ihr so viel