1910 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: ,
- Hrsg.: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
20. Der treue Leo.
(Wahre Begebenheit vom Dezember 1891.)
Dora Schiatter.
„Leo, Leo, laß mich leben; Leo, du erstickst mich," so rief
der kleine Hans vergeblich einem mächtigen Bernhardiner in die
gelblichen Ohren. Vergeblich — immer wieder legte dieser seine
mächtigen Tatzen auf die Achsel des Jungen. Endlich hatte er seine
Freude genugsam gezeigt und ließ sich nun schwanzwedelnd den
breiten Rücken klopfen von der kleinen Hand. „Ja, bist ein Guter,
ein Braver, gelt, der Morgen ist dir lang geworden ohne mich.
Aber jetzt komm!“ Damit setzten sich die beiden in Galopp und
erreichten in großen Sätzen die väterliche Mühle, die am klaren,
sprudelnden Bergbach abseits vom Dorfe lag.
Jeden Morgen nach elf Uhr wiederholte sich die Begrüßungs-
szene seit dem Frühling, da Hans seinen Schulsack schnallen und
abwandern mußte zum regelmäßigen Lernen. Da hatte Leo winselnd
und heulend seinen Spielkameraden auf die Landstraße begleitet,
und lange hatte er gebraucht, bis er begriffen, er dürfe nicht weiter
mitgehen.
Kamen die beiden atemlos an der Mühle an, dann setzte sich
Leo auf die Steinplatten vor dem Hause und wartete, bis Hans
wieder zurückkam von drinnen. Daß es nicht lange dauerte, wußte
er. Hans hatte bei der gütigen Mutter ein Stück Brot geholt.
„Laß mich doch, Leo, brauchst nicht so zu stoßen, es ist ja
dein, aber warf doch" — damit legte Hans seine Hand schützend
auf die Hosentasche, um sein erbeutetes Stück vor der zudringlich
stoßenden Nase Leos zu schützen. Dann rannte er nach einem
Lattenzaun, schwang sich hinauf, um in etwas gesicherter Höhe
sein Brot zu verschmausen. Leo setzte sich vor ihn hin und verfolgte
mit rotleuchtenden Augen jeden Bissen, der im Munde des Knaben
verschwand. Aber mancher flog im Bogen in seinen Rachen, den
er geschickt öffnete. Manchmal hielt ihm Hans den Brocken lange
an die Nase und ließ ihn schließlich in den eignen Mund spazieren.
Dann klopfte Leo mit dem Schwänze auf den Boden, daß es schallte,
als wollte er sagen: „Weil du's bist, lasse ich mir das gefallen,
sonst würde ich schnappen. Aber wir beide verstehen Spaß."