1910 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: ,
- Hrsg.: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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117. Ein Christabend in Feindesland.
H. Schramm.
In keiner Stunde seit Ausbruch des Krieges mochten wohl unsre
wackeren Krieger mit größerer Sehnsucht an die traute deutsche
Heimat gedacht haben, als da der Christabend heraufdämmerte.
Diesmal tönten keine jubelnden Kinderstimmen an ihr Ohr; sie
waren allein, fern von Weib und Kind, fern von Eltern, Geschwistern
und Freunden, fern von allen Lieben. Trotz alledem wurde das
schönste, dem deutschen Herzen liebste Fest der Christenheit vielfach
auf eine würdige Weise gefeiert.
Nirgends aber im ganzen deutschen Feldlager, so berichtet ein
deutscher Soldat, ist wohl der Weihnachtsabend in so weihevoller
Stimmung gefeiert worden als von unsrer Kompagnie. Die Feier
wurde von unserm Hauptmann, der überhaupt immer wie ein Vater
für seine Kinder sorgte, veranstaltet. Um den Soldaten und sich
selbst eine Weihnachtsfreude zu bereiten, ließ er eine mitten im
Garten seines Quartiers stehende Fichte mit Äpfeln und allerhand
von den Soldaten aus buntem Papier angefertigten Christbaum-
verzierungen behängen und mehrere hundert Kerzen auf den Ästen
und Zweigen befestigen. Abends Xi21 Uhr versammelte sich die
Kompagnie vor dem Quartier ihres Hauptmanns, und nachdem dieser
die Lichter auf dem riesigen Christbaum hatte anzünden lassen,
führte er seine Leute selbst in den Garten, wo nun zehn Musiker
des Regiments auf ein von ihm gegebenes Zeichen eine ernste Weise
zu blasen begannen. Die Kompagnie stellte sich im Kreise um den
Christbaum; dann trat, nachdem das Musikstück beendet war, der
Hauptmann in die Mitte und hielt folgende Ansprache an die Soldaten :
,,Da es mir nicht vergönnt ist, den heutigen Freudentag im Kreise
meiner Lieben daheim im teuern Vaterland zu verleben, da ferner
die meisten von euch selbst verheiratete Männer sind, die gewiß
mit heißer Sehnsucht an diesem Abend ihrer Familie gedenken, so
habe ich euch, meine lieben Leute, um mich versammelt, um mit
und unter euch den Weihnachtsabend zu feiern; gehört ihr doch
jetzt zu meiner Familie, seid ihr doch jetzt alle meine Kinder!
Zuerst laßt uns gemeinschaftlich singen: Nun danket alle Gott!"
Einige Male mußte der Hauptmann seine schlichte Rede unter-
brechen; denn tiefe Rührung erstickte seine Stimme. Auch die Sol-