1910 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: ,
- Hrsg.: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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findet sie gottlob nicht darunter, wohl aber einen mit der Nummer
seines Regiments, der jedoch nur leicht verwundet ist und ganz
munter dreinsieht. Es gelingt ihr, zu ihm durchzudringen. Welche
Freude, als sie von dem Befragten hört, daß er ihren Wilhelm,
der mit ihm bei derselben Kompagnie stehe, ganz gut kenne und
ihn noch gestern wohl und munter gesehen habe!
Wie schlägt da ihr Herz voll heißen Dankes gegen den Herrn,
der ihre Gebete erhört und seine schützenden Flügel über das
geliebte Kind gebreitet hat! Wie drängt sie nun aber auch ihr
Herz, einem der Unglücklichen, die sie hier vor sich sieht, etwas
Gutes zu tun und so Gott dem Herrn ihren Dank zu opfern! Viel
kann sie zwar nicht tun, denn sie hat selbst nur zur Not zu leben.
Darum will sie sich auch den Bedürftigsten aussuchen, daß ihre
Gabe wohl angewendet sei.
Da sieht sie fast zuletzt einen aussteigen, bleich und hohläugig,
den linken Arm, von dem der Waffenrock zerrissen herabhängt,
in der Binde, den Kopf mit einem schwarzen Tuche umwunden,
das linke Bein mühsam nach sich schleppend. „Der ist gewiß der
Bedürftigste," denkt sie und drängt sich mühsam zu ihm hin.
Daß er statt der Achselklappen silberne Achselschnüre trägt,
sieht sie in ihrem Eifer nicht, kennt auch vielleicht gar nicht den
Unterschied zwischen diesen Abzeichen. Und wie soll sie in dem
zerrissenen, noch vom Schmutze der Straßburger Laufgräben über-
zogenen Waffenrock den Offiziersrock erkennen, zumal da der Degen
im Zuge zurückgeblieben ist?
Endlich hat sie den Ärmsten erreicht, berührt ihn sanft an dem
gesunden Arme und drückt ihm, als er sich zu ihr umwendet,
verschämten und doch seligen Blickes — einen Groschen in die Hand.
„Mehr habe ich selbst nicht," flüsterte sie dem Staunenden zu,
„aber es ist ein Witwenscherflein, und Gott segne es Euch!"
Wehmütig lächelnd nimmt der verwundete Hauptmann — denn
ein solcher war es — den Groschen, steckt ihn in die Tasche
und spricht mit einer Träne im Auge: „Danke herzlichst, liebes
Mütterchen! Ja, diesen Groschen wird gewiß Gott segnen! — Aber
nun müßt Ihr auch von mir ein kleines Andenken nehmen."
Spricht’s, dreht sich um, nimmt etwas aus seinem Geldtäschchen,
wickelt es in ein Papier und reicht es dem Mütterchen dar mit