1910 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: ,
- Hrsg.: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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Bahn hin ein durch den Wald führender, breiter, sandiger Landweg;
auf ihm erscheint eine Frau, welche Reisig trägt, oder ein alter Land-
briefträger, der den gewohnten Weg durch den Sand stapft.
Vornehmer sieht die Chaussee aus, auf beiden Seiten mit Eber-
eschenbäumen bepflanzt, deren Beerenbüschel im Herbst so prachtvoll
korallenrot glänzen. Zuweilen fährt man durch eine unsäglich magere
Heide. Aber in das Grau des Bodens hat die Natur wie mit amarant-
roter Wolle die entzückenden Blumenkissen des wilden Thymians hinein-
gestickt. Eine Schafherde weidet auf dem dürren Grunde. Bei dem
Nahen des Zuges flieht sie auseinander, der Hund hinter ihr her, die
bangen Tiere wegen ihrer Ängstlichkeit scheltend und schmähend. Nach-
denklich sieht der Hirt dem Zuge nach. Denkt er an die Ferne, an
märchenhafte Paläste und Gärten, an Feen von zauberischer Schönheit,
oder schweben ihm Kartoffeln mit Speck, welche die nahende Stunde
der Mahlzeit verheißt, vor Augen?
Viel Vergnügen machen mir die Bahnwärterhäuschen mit ihren
Gärtchen. Die kleinen Gärten sind untereinander sehr verschieden. Der
eine Bahnwärter gibt mehr auf das Nützliche und hat den ganzen
Boden mit Gemüse bestellt; der andere bepflanzt wenigstens den einen
Teil mit Blumen. Die Blumen sind auch verschiedener Art an den ver-
schiedenen Häuschen. Hier sieht man nur Bauernblumen, wie Ritter-
sporn, brennende Liebe, Ringelblume, Mohn, Eisenhut und anderes
der Art; dort macht die Nähe der Stadt sich durch vornehmere, vom
Gärtner bezogene Gewächse bemerkbar. Die meisten Häuschen sind von
Eseu überrankt. Das sieht nicht nur hübsch aus, sondern ist auch nütz-
lich; denn der Efeu hält trocken und warm, wie man jetzt weiß, und
dem Gemäuer fügt er keinen Schaden zu, sondern hält es unter Um-
ständen zusammen.
Etwas anderes, was mich anzieht, ist die Pflanzenwelt, welche sich
auf den Bahndämmen ansiedelt und sie manchmal ganz in Besitz nimmt.
In der Umgegend von Berlin hat die gelbe Nachtviole sich nicht nur
der Dämme, sondern des Bahngeländes überhaupt bemächtigt. Wo
die Bahn durch Heide geht, legt sich bald das Heidekraut wie ein dichter
Teppich über die Dämme.
Aber nicht nur zu sehen ist auf der Bahn manches, sondern einiges
auch zu hören. Manchmal schallt ein Vogelschlag in den Bahnwagen
hinein, oder man hört eine Sense schärfen. Auch das Rauschen des
Windes im Schilf oder im Eichen- und Escheubaum hört man zuweilen.