1910 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: ,
- Hrsg.: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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Ja, am Tage war es schon wunderschön hinter den grünen Laub-
gardinen der alten Kastanie. Zuweilen kam eine ganze Horde Sperlinge,
die tollten in dem Zweigwerk herum, schalten und bissen sich und jagten
sich halb aus Ernst und halb aus Spaß.
Vater und Mutter erzählten den Kindern von der großen, schwarzen
Katze, die im Pastorengarten des Abends herumschlich, vom Igel, der so
gern Vogeleier und junge Vögel fraß, und von dem großen Jagd-
hunde des Pastors, der aber nur bellte und nie biß.
Aber ängstlich wurde ihnen, wenn sie von Sperbern und Habichten
erzählen hörten, die aus der Luft herab auf die Vögel stoßen und sie
zerkrallen und nackt rupfen und dann auffressen. Und unheimlich wurde
es, wenn die Nacht kam, wenn sie halb schon im Schlafe allerlei seltsame
Geräusche hörten und mitunter spürten, wie das Herz der Mutter
stärker klopfte und lauter schlug aus Angst und Sorge um die
Kinder. — — —
Eines Tages sagte der Vater einmal leise zu der Mutter: ,,Jch
glaube, wir können es schon einmal versuchen." Die Mutter sah ihre
drei Kinder zweifelnd an. Aber diese hatten erraten, wovon die Eltern
sprachen, und riefen: „O ja! o ja! lehrt uns fliegen, wie ihr fliegen
könnt. Wir wollen auch gut aufpassen." Der älteste von ihnen, der
zuerst aus seiner Eischale gekrochen war, stieg kühn auf den Rand des
Nestes, schlug kräftig mit den Flügeln und —-------------war plötzlich ver-
schwunden, ehe der Vater herzufliegen und ihn zurückhalten konnte. Mit
Gesichtern voll Schrecken saßen die Eltern da und wagten nicht sich zu
rühren. Dann hörten sie aus der Tiefe ein klägliches ,,Piep! Piep!" —
,,Bleibt still im Neste, bis ich wiederkomme!" rief die Mutter ihren zwei
Kindern zu, dann schwang sie sich hinab in die Tiefe, um ihr gestürztes
Kind zu suchen. Der Vater folgte ihr sogleich.
Mitten auf einem geharkten Wege lag der Kleine und konnte nicht
von der Stelle. Von allen Seiten besahen ihn die Eltern, bis sie den
Schaden fanden. „Er hat ein Bein gebrochen," sagte der Vater leise zu
der Mutter- „Da ist nichts zu machen. Er wird wohl sterben." Ach,
wie traurig wurde die Mutter, als sie das hörte! Gerade ihr Liebling
war es, der aus dem Neste gestürzt war. Sie fing Fliegen für ihn, sie
suchte ihm Körnlein und pflegte ihn, so gut sie konnte.
Da kam auf einmal etwas durch die Büsche geraschelt. Zwei große
Augen sahen auf den jungen Buchfink hernieder, ein großes Maul tat
sich auf. Erschrocken flogen die Alten davon. Und der Kleine, der sich
Beeiden st ein, Mittelschullesebuch Ii. 22