1910 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: ,
- Hrsg.: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 1 – Primarstufe, Klassen 1 – 4/6
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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von Stunde zu Stunde dreister und flog oft zwei-, dreimal durch die
Stube, ohne sich ausruhen zu müssen.
Ms dann nach einigen Tagen die Sonne einmal besonders hell
schien, saß er auf der Fensterbank und hörte unten im Garten die Vögel
herumfliegen. Da wurde sein Herz voll Sehnsucht nach den grünen
Bäumen, und er dachte: „Ach, wie würden sich die Eltern freuen, und
was würden sie wohl sagen, wenn du auf einmal ins Nest geflogen kämst!"
Und immer heißer wurde es ihm ums Herz. Er schlug vor Freude
mit den Flügeln, er hüpfte von einem Bein aufs andere, und dann —
und dann gab er sich einen Schwung und sauste hinab in den Garten,
schräg durch die Luft abwärts, gerade in den Syringenbaum hinein.
Glücklich hatte er einen Zweig mit den Füßen erwischt. Ihm klopfte
vor Freude und Schreck das Herz zum Zerspringen.
O, wie schön war es hier! Er ruhte sich einen Augenblick aus, dann
flog er weiter bis auf die Spitze eines Lebensbaumes, und laut klang
sein Pink! Pink! durch den Garten. Vom Lebensbaume flog er mitten
auf einen Rasen, da pickte er ein Goldkäferchen auf und hätte wohl noch
lange herumgesucht nach Käfern und Würmern, wenn er nicht solche
Sehnsucht nach der alten Kastanie gehabt hätte. Er sah sie jenseits
des Rasens dicht an der Gartenmauer stehen. Einen ihrer dicken wage-
rechten Äste suchte er sich als Ziel aus, und mit vielen schnellen Flügel-
schlägen flog er gerade darauf zu. Ach, wie herrlich war das Fliegen!
Etwas Schöneres konnte es gar nicht geben. Von einem Aste hüpfte er
zum andern und blickte überall nach dem elterlichen Reste umher. Aber
er fand es nicht. Er suchte die ganze Kastanie ab und fand es nicht.
Er rief und rief, und niemand antwortete ihm. Da flog er wieder
hinab in den Garten und sah den alten Pastor spazieren gehen. Der
Buchfink flog ihm aus die Schulter und rief: „Piep! Piep!" Der Pastor
ließ ihn ruhig sitzen. Er erkannte ihn wohl wieder und freute sich über
die Dankbarkeit des Tieres. Als er langsam in die Nähe des Hauses
kam, verließ ihn der Buchfink und flog zur Kastanie zurück und hörte
nicht auf zu rufen bis zum Abend.
Da, endlich wurde er gehört. Die Eltern und Geschwister, die den
ganzen Tag über fortgewesen waren, kamen nun zurück und führten
ihn zum Neste in der Astgabel. Nun war noch einmal die ganze Familie
zusammen. Am andern Tage flog der eine hier-, der andere dorthin.
Nur die Mutter nahm ihren Ältesten mit, um ihm ein paar gute Futter-
plätze zu zeigen. Sie führte ihn zu einer Laube im Garten, wo jeden