1912 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Steger, August, Wohlrabe, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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„Ich weiß, was ihr vorhabt,“ sagte er, „und ich komme, um euch die Mühe
und Schlechtigkeit des Autlauerns zu ersparen. Habe ich euch etwas
zuleide getan, so sagt es mir gerade heraus, und bin ich straffällig, so
will ich dafür büßen.“ Die Bauern sahen ihn erst stutzig an; dann trat
einer nach dem andern an ihn heran, bot ihm die Hand und bat um Ver-
zeihung.
Ein andres Mal begegnete Oberlin, als er, mit einem Buch in der
Hand, auf einem einsamen Gebirgsstege ging, einem wild und trotzig
aussehenden Arbeiter, der einen Balken trug und ihn statt jeden Grußes
mit den schmählichen Worten anredete: „Wo hinaus, Hans Hornvieh?“
— „Du irrst dich, Freund,“ versetzte der Pfarrer mit würdiger Ruhe,
„ich heiße Oberlin.“ Und der Bauer ging beschämt weiter.
6. Oberlin begnügte sich nicht damit, den Bauern ihre Laster vor-
zuhalten, sondern er zeigte ihnen auch, in welcher Weise sie ihr Leben
zum Bessern zu ändern hätten, und wie sie auch ihrer leiblichen Not ab-
helfen könnten. Er wies sie vor allem auf Arbeit und Tätigkeit hin
und zeigte, wie man auch dem kärgsten Boden noch einen Ertrag ab-
ringen könne. Als die bessere Jahreszeit begann, lehrte er sie bestimmte
Rinnsale graben, um den Abfluß der Gebirgswasser, welche alljährlich
das Erdreich zerrissen und die dünne Schicht des Pflanzenbodens hin-
yvegschwemmten, zu regeln.
Er hieß das Gerölle und Gestein von den Feldern entfernen und die
tierischen und Pflanzenabfälle, die sonst unreinlich vor den Hütten um-
herlagen, zusammentragen, um sie zur Düngung zu benutzen.
Ungläubig schüttelten die Bauern zu den Ratschlägen des Pfarrers
die Köpfe; sie meinten, daß er es wohl verstehen möchte, eine Predigt
zu halten, in der Landwirtschaft aber werde das Stadtkind sie nicht be-
lehren. „Bei uns wächst doch nichts Rechtes,“ war die gewöhnliche
Redensart, mit der sie seine Aufforderungen zur Arbeit ablehnten.
Aber Oberlin predigte auch durch die Tat. Er fing mit seinem Diener
allein an zu graben und zu arbeiten, und als er so einen kleinen, gedeih-
lichen Acker an seinem Pfarrhause geschaffen, da wunderten sich die
Bauern und weigerten sich nicht mehr, seinem Rate zu folgen. „Aber
wo nehmen wir die Ackergeräte her?“ fragten sie nun; denn in der
Gemeinde gab es weder diese noch Handwerker. Auch dafür schaffte
Oberlin Rat; er ließ solche aus Straßburg kommen und lieh sie den
Bauern, Die Bezahlung stundete er ihnen so lange, bis sie dieselbe
schon aus dem Nutzen, den sie ihnen gebracht hatten, berichtigen konn-
ten. Da fernerhin die Samenkartoffeln durch mehrjährige Mißernten
untauglich geworden waren, so verschrieb er Saatkartoffeln aus Loth-
ringen und Deutschland und verteilte sie. Er ließ auch Flachssamen von