1912 -
Hannover
: Norddt. Verl.-Anst. Goedel
- Autor: Kippenberg, August, Rosteutscher, Waldemar
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mädchenschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mädchenmittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Geschlecht (WdK): Mädchen
120
erfordert wurde, alle Arbeit war Sache der Subalternen, der Kammer-
herr galt mehr als der verdiente General und Minister; in Preußen
war auch der Vornehmste gering geachtet, wenn er dem Staate
nichts nützte, und der König selbst war der allergenaueste Beamte,
der über jedes Tausend Taler, das erspart oder verausgabt wurde,
sorgte oder schalt. Wer in Österreich vom katholischen Glauben ab-
fiel, wurde mit Konfiskation und Verweisung bestraft, bei den Preußen
konnte sich jeder frei für ein Glaubensbekenntnis entscheiden. Bei
den Kaiserlichen war die Regierung im ganzen lässig gewesen, wenn
sie sich um etwas hatte bekümmern müssen, die preußischen Beamten
hatten ihre Nase und ihre Hände überall. Trotz der drei Schlesischen
Kriege wurde die Provinz weit blühender als zur Kaiserzeit. Einst
hatten hundert Jahre nicht ausgereicht, die handgreiflichen Spuren
des Dreißigjährigen Krieges zu verwischen, die Leute erinnerten
sich wohl, wie überall in den Städten die Schutthaufen aus der
Schwedenzeit gelegen hatten, überall neben den gebauten Häusern
die wüsten Brandstellen. Viele kleine Städte hatten noch Blockhäuser
nach alter slawischer Art mit Stroh- und Schindeldach, seit langem
dürftig ausgeflickt. Durch die Preußen waren die Spuren nicht
nur alter Verwüstung, auch der neuen des Siebenjährigen Krieges
nach wenigen Jahrzehnten getilgt. Friedrich hatte einige hundert
neue Dörfer angelegt, hatte fünfzehn ansehnliche Städte zum großen
Teil auf königliche Kosten wieder in regelmäßigen Straßen aus-
mauern lassen, er hatte den Gutsherren den harten Zwang aufgelegt,
einige tausend eingezogene Bauernhöfe wieder aufzubauen und mit
erblichen Eigentümern zu besetzen. Zur Kaiserzeit waren die Abgaben
weit geringer gewesen; aber sie waren ungleich verteilt und lasteten
zumeist auf dem Armen, der Adel war zum größten Teile von
ihnen befreit, die Erhebung war ungeschickt, viel wurde ver-
untreut und schlecht verwendet, es floß verhältnismäßig wenig in
die kaiserlichen Kassen. Die Preußen dagegen hatten das Land
in kleine Kreise geteilt, den Wert des gesamten Bodens abgeschätzt,
in wenig Jahren fast alle Steuerbefreiung aufgehoben, das flache
Land zahlte jetzt seine Grundsteuer, die Städte ihre Akzise. So
trug die Provinz die doppelten Lasten mit größerer Leichtigkeit,
nur die Privilegierten murrten, und dabei konnte sie noch 40 000
Soldaten unterhalten, während sonst etwa 2000 im Lande gewesen
waren. Vor 1740 hatten die Edelleute die großen Herren gespielt,
wer katholisch und reich war, lebte in Wien, wer sonst das Geld
aufbringen konnte, zog sich nach Breslau, jetzt saß die Mehrzahl
der Gutsherren auf ihren Gütern, die Krippenreiterei hatte auf-
gehört, der Adel wußte, daß es ihm beim König für eine Ehre
galt, wenn er für die Kultur des Bodens sorgte, und daß der neue
Herr solchen kalte Verachtung zeigte, die nicht Landwirte, Beamte
oder Offiziere waren. Früher waren die Prozesse unabsehbar und
kostspielig gewesen, ohne Bestechung und Geldopfer kaum durch-