1912 -
Hannover
: Norddt. Verl.-Anst. Goedel
- Autor: Kippenberg, August, Rosteutscher, Waldemar
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mädchenschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mädchenmittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Geschlecht (WdK): Mädchen
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europäisch kleiden, trägt die japanische Bevölkerung noch das alt-
hergebrachte Nationalgewand.
In der Hauptstraße liegen die offenen Verkaufsläden Haus bei
Haus, und der Kunde darf alles besehen und anfassen. Auf dem
über der Straße erhabenen Flur sind die in ganz Japan gebräuch-
lichen dick gepolsterten Matten mit den Verkaufsgegenständen
ausgebreitet. Hier sind bedruckte und bemalte Zeugstoffe, dort
Holz- und Lackwaren ausgestellt; an einem andern Laden werden
Bücher und Bilder feilgeboten oder Bürsten, Schreibmaterialien,
Bronzewaren, Rauchgegenstände, Sandalen, Kinderspielzeug,
Seidenstoffe, Arbeiten aus Papier, Altertümer usw. Alles ist sauber
gehalten und gefällig geordnet; das zierliche und nette Aussehen
der Waren erregt die Kauflust.
Von einem Schwarm Neugieriger umdrängt, treten wir in einen
Bilderladen. Der auf dem Flur hockende Besitzer verbeugt sich so
tief, daß seine Stirn fast den Boden berührt, und harrt geduldig
unserer Wünsche. Nachdem wir einige hundert Bilder für etliche
Taler erstanden, bringt uns der Dolmetscher zu einem Kuriositäten-
händler. Da hängen an den Wänden prächtig ziselierte Klingen
und Schwertblätter, vergoldete Rüstungen und gewebte Prachtge-
wänder der vornehmen alten Adelsgeschlechter. Die Wirklichkeit
hat ja diese Herrlichkeiten durch den europäischen schwarzen Frack
und das liebe Spazierstöckchen ersetzt, und zum richtigen Japaner
gehört nunmehr eine Brille! Kleinode verloren gegangener Kunst
und reichen Lebens: goldbemalte Trinkschalen und Prunkkästen,
bronzene Vasen und Silberdrachen mit Schuppenpanzern und beweg-
lichen Gliedern, Elfenbeinfigürchen in entzückender Feinheit, altes
Porzellan von unvergleichlichem Farbenschmelz, Porzellangeschirre,
dünn wie Papier, sind hier aus den verarmten Edelsitzen des ganzen
Landes zusammengeschleppt und für den Fremden zum Kauf gestellt,
um über die Erde zerstreut zu werden. Wenige Schritte entfernt
liegt ein Geschäft für Seidenstickereien. Vor dem Laden haben wir
uns der Stiefel zu entledigen; denn der Reinlichkeitssinn verbietet,
jemals den Mattenboden eines japanischen Hauses mit Schuhwerk
zu betreten.
Von der Hauptstraße biegen wir in ein Seitengäßchen und glau-
den uns plötzlich in ein Dorf lein versetzt. Einstöckige Häuser mit
Gärtchen, bebaute Felder ringsum! Hier wird von den kleinen Leuten
Papier fabriziert. Wenn Japan „das Land der Blumen", „das Para-
dies der Kinder", „die Heimat der höflichen Menschen", „der
Schauplatz harmloser Lebensfreude" genannt wird, so könnte man
es scherzweise auch „das Land des Papiers" heißen. Der Japaner
benutzt Papier als Taschentuch, als Pflasterunterlage, gedreht als
Bindeband, gefaltet als Mütze und Haarschmuck, zur Herstellung
von Fächern, Schirmen, Laternen. Es ersetzt ihm Fensterscheiben