1912 -
Hannover
: Norddt. Verl.-Anst. Goedel
- Autor: Kippenberg, August, Rosteutscher, Waldemar
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mädchenschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mädchenmittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Geschlecht (WdK): Mädchen
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Der Lastzug schwankt langsam vorüber und entschwindet dem Nuge
in einem dunstigen Luftsee, auf dessen wogenden wellenschichten die Kamele
zu schweben scheinen. Noch immer verweilt man in derselben Lage, leidet
man unter denselben Beschwerden. Die Lonne hat die Mittagshöhe längst
überschritten,- aber nach wie vor sendet sie ihre glühenden Strahlen mit
gleicher Stärke hernieder. Endlich, in den Spätnachmittagsstunden, bricht
man von neuem auf. Und wiederum ein Bitt, daß die rasche Bewegung
einen beinahe kühlenden Luftzug entgegenführt, bis die Lastkarawane
wieder in Licht kommt und bald darauf erreicht wird. Singend schreiten
die Kamelsührer hinter ihren Tieren einher. Liner von ihnen trägt das
Lied vor, die übrigen schließen jeden einzelnen Vers mit regelmäßig
wiederkehrendem Endreim.
Wenn man die Mühsale erwägt, die ein Kameltreiber auf Wüsten-
reisen zu erleiden hat, wundert man sich freilich, daß man ihn singen hört,
vor Tagesanbruch belud er sein Lasttier, nachdem er mit ihm einige Hand-
voll weichgekochter Durrahkörner, beider einzige Nahrung, geteilt hatte;
während des ganzen langen Tages schritt er, ohne einen Bissen mehr zu
genießen, höchstens an stinkendem Schlauchwasser zeitweilig sich erlabend,
hinter seinem Tiere einher,- die Lonne sengte seinen Scheitel, der glühende
Land verbrannte seine Sohlen, die heiße Luft trocknete seinen schweiß-
triefenden Leib; ihm blieb keine Zeit, zu ruhen, zu rasten; er mußte
vielleicht noch einige seiner Tiere umladen, eines oder das andere, das
ihm durchgegangen, wieder einfangen; und dennoch singt er jetzt seine
Lieder. Das wirkt die Nacht der Wüste.
2.
Venn die Lonne zur Rüste geht, scheinen sich die Glieder dieser
ausgedörrten Wüstenkinder neu zu erfrischen; denn auch sie gleichen in
allem und jedem ihrer erhabenen Mutter, der Wüste. Mit ihr erglühen
sie um die Mittagszeit, mit ihr erblühen sie zur Zeit der Nacht. Sobald
die Lonne sich neigt, spinnt ihre Dichtergabe goldene Träume noch im
Wachen aus. Der Länger preist wasserreiche Brunnen, Palmengruppen
um sie her und dunkle Zelte unter ihnen; er grüßt ein braunes Mädchen
in einem der Zelte, das ihm den Gruß des heiles spendet, rühmt ihre
Schönheit, vergleicht ihre Nugen mit denen der Gazelle, ihren Mund
mit einer Nose, deren Blütendüfte als Worte in der Muschel seines Ghres
zu perlen sich reihen, verschmäht des Sultans erstgeborene Tochter ihret-
halben und sehnt die Stunde herbei, in der das Geschick ihm gestattet,
das Zelt mit ihr zu teilen. Seine Genossen aber mahnen ihn, noch höhere
Sehnsucht zu empfinden, und richten deshalb fort und fort seine Gedanken
auf den Propheten, „welcher unsere Sehnsucht, unser verlangen stillt".
So klingt es dem nordischen Fremdlinge entgegen, und auch ihm
drängen sich Lieder der Heimat über die Lippen. Und wenn dann der
letzte rosige Dufthauch der geschiedenen Sonne nachglüht, wenn die Nacht
ihr Zaubergewand über die Wüste breitet, dann will es ihm scheinen, als
sei das Schwerste leicht gewesen, als habe er während des Tages Glut