1913 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
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noch ein paar Stündchen zu schlummern; denn in der nächsten
Nacht wird wenig an Schlaf zu denken sein. Dann geht es um
Skagen und durch das gefürchtete Kattegatt, und er kann das Deck
nicht verlassen, während er es bei Tage seinem bewährten Ober-
torpeder wohl anvertrauen darf. Schon beginnen seine Oedanken
zu verschwimmen; da schnellt er plötzlich von seinem Lager empor.
Ein Schrei hat ihn geweckt. Im selben Augenblicke stoppt auch
die Maschine, und über seinem Kopfe hört er die Schritte von
hin und her laufenden Menschen. Er stürmt an Deck. „Was ist
vorgefallen?" ruft er mit gepreßter Stimme. „Mann über Bord!“
lautet die Antwort, jener schaurige Ruf an Bord, der alle Herzen
erzittern läßt. Der Kommandant braucht keine weiteren Befehle zu
erteilen; der umsichtige Obertorpeder hat bereits die richtigen
gegeben. Im Augenblicke, wo der Mann auf dem schlüpfrigen, nur
von einem Strecktau umzogenen Deck ausglitt und über Bord fiel,
flog ihm auch schon die stets klar hängende Rettungsboje zu, die
einen Verunglückten bis zur Brust über Wasser hält. Ohne weiteren
Befehl stürzte die Besatzung zu dem auf dem Deck liegenden Boote,
um es blitzschnell zu lösen und mit nervigem Arm über Bord zu
schieben, während ein Unteroffizier und ein zweiter Mann auf den
Kommando- und den Steuerturm sprangen, um den Verunglückten
mit den Augen zu verfolgen und dem nacheilenden Boote die
Richtung anzugeben. Es dauert keine Minute, bis das letztere zu
Wasser gebracht ist und abstößt; aber trotz des kräftigen Rückwärts-
schlagens der Schraube ist das Torpedoboot bei seiner rasenden
Fahrt noch Hunderte von Schritten vorausgeschossen, ehe es zum
Stillstände gebracht werden konnte.
Aller Augen spähen nach dem Mann; er ist verschwunden, und
das Herz krampst sich zusammen. „Ich sehe ihn, ich sehe ihn!“
ruft freudig der Obertorpeder und zeigt mit ausgestrecktem Arm,
wohin die Leute im Boote zu rudern haben. „Er hat die Boje!“
ergänzt er seine Meldung; alle atmen tief auf. Gott sei Dank!
Diesmal ist das drohende Unheil noch glücklich abgewendet worden,
und ein jubelndes Hurra begrüßt den Augenblick, in dem der Ver-
lorengeglaubte vom Boote geborgen wird. Das Torpedoboot dampft
ihm entgegen, und bald befindet er sich an Bord, freilich fast erstarrt
in dem eisigen Wasser; aber ein Glas heißen Grogs setzt sein Blut
in die nötige Wallung und bringt ihn schnell wieder auf die Beine.