1913 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
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14v. Chicago.
Ernst von Hesse-Wartegg.
Chicago ist vielleicht die gewaltigste der menschlichen Schöpfungen
aller Zeiten. Erst vor fünfundsiebzig Jahren auf kahlem Prärieboden
gegründet, zweimal verbrannt, zweimal aus rauchenden Trümmern neu
erstanden, ist es heute schon eine Stadt, deren Pulsschlag in Neuyork
ebenso verspürt wird wie in den großen Zentren Europas oder an
den Lüsten des Stillen Ozeans. Anfangs ein unbedeutendes Land-
städtchen, war es bereits in den siebziger Jahren des verflossenen Jahr-
hunderts in mancher Hinsicht der größte Markt Amerikas, das Nishnij
Nowgorod eines ganzen Erteils, und wetteifert heute selbst mit Neuyork.
Und in jedem Jahre entstehen aus den grünen Weideflächen Tausende
von Häusern, neue Straßen, neue Stadtteile.
Andere Großstädte Amerikas sind längst ,,fertig" und entwickeln
sich auf einer natürlichen Grundlage; in Chicago sieht man überall
den Wechsel vom Alten zum Neuen, von Armut zu Reichtum, von unstetem
Wanderleben zum bleibenden Aufenthalt. Das zeigt sich nicht nur im
Aussehen der Stadt, in ihrem Geschäfts- und Verkehrsleben, sondern auch
in ihrer Bevölkerung, dem seltsamsten Gemisch aller Nationen der Alten
und Neuen Welt, wo es mehr Zugewanderte als Eingeborene, mehr
Deutsche als Amerikaner, mehr Angehörige anderer Nationen als Deutsche
gibt. Die nationalen Eigentümlichkeiten sind noch nicht verwischt, die
Sprachen sind noch nicht in dem alles verschlingenden Pankee-Englisch
untergegangen. Die einzelnen Nationen halten noch immer zusammen
und haben ihre mit Vorliebe gewählten Stadtviertel mit ihren Schulen,
Kirchen, Zeitungen. Nur in dem Geschäftsviertel treffen sie aufeinander,
nur dieses hat allmählich ein einheitliches Gepräge angenommen, welches
der Pankee-Amerikaner ihm aufdrückte.
Müßiggang hat in der großen Geschäftsstadt keinen Platz. Nirgends
bin ich einem größeren, lebhafteren Straßenverkehr begegnet als in
der das Eeschäftsviertel von Chicago enthaltenden Quadratmeile. In
ihr konzentriert sich nicht nur das Geschäftsleben der über zwei Millionen
Chicagoer, sondern auch indirekt des ganzen nahe eine Million Quadrat-
kilometer umfassenden nördlichen Mississippibeckens, das bis hinauf an
die kanadische Grenze von Chicago abhängig ist. Ein anderer Umstand,
der diese vielen Tausende auf den breiten Trottoirs und selbst in den