1913 -
Frankfurt am Main
: Diesterweg
- Autor: Breidenstein, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
bewahrt das zurückgezogene ländliche Leben viel des Alten und stärkt
somit kraft der Gewohnheitsmacht konservative Neigung. Dicht neben
der verkehrsreichen, durch ihren Fruchtsegen berühmten Wetterau, durch
die der Weg von Gießen nach Frankfurt zieht, konnte man, ehe jüngst die
Einführung des Petroleums die Beleuchtung des ärmsten Hinterwälder-
dörfchens besserte, die Wohnstuben der Bauern auf dem Vogelsberge
noch zum Teil mit Kienfackeln erleuchtet finden. Treu erhalten sind
noch vielfach die alten ländlichen Trachten, besonders der schon von den
Sueven des Altertums überlieferte Haarknoten auf dem Scheitel der
Frauen, überdeckt von dem kleinen roten Käppchen, das mit schwarzem
Eebünde unter dem Kinn befestigt wird. Die Kost ist selbst bei reicheren
Bauern, wie denen des Schwalmgrundes, spartanisch einfach und erseht
noch nicht überall die Frühsuppe von Hafer durch Kaffee. „Geradezu" ist
der Hesse bis zur Grobheit, aber das gegebene Wort hat auch noch
den Wert der Ehrlichkeit. Der Schwälmer gibt noch heute dem Nachbar
ein Darlehn aufs bloße Wort oder auf Handschein. Im angestrengten
Kampf ums Leben ist der Hesse hart und ernst geworden; ausdauernder
Fleiß, Genügsamkeit, körperliche Abhärtung wurden ihm zum alten Erb-
stück, und das trägt seine urgermanische Tapferkeit. Gilt es die Kriegs-
waffe zu führen, so beseelt ihn ein wahrer Heldenmut, der vor keiner
Gefahr zurückbebt.
168. Ein hessisches Bauerndorf.
L. F. Werner.
Hoch oben in den Bergen liegt's. Auf dem Winterbergs über dem
Orte wachsen dreierlei Sorten Enzian. Ein Pflanzensammler, der den
Berg abstrich, meinte, es wäre die reine Alpenflora da oben zu finden.
Gegenüber am Waldessaum, wo die Hochfläche zum Tal abfällt,
hat vor Jahren eine Windmühle gestanden. Die soll ganz lustig im
Winde gegangen sein. Sie ist weg und wird nicht weiter vermißt;
denn etwas weiter herunter in den Schluchten haben die Bäche vom
Winterberge schon Kraft genug, um Wassermühlen zu treiben.
Die Mühlen liegen hübsch geschützt in den-engen Tälern, die sich
an den Berg und die Hochebene anschließen. Hoch oben im „Neste"
aber pustei der Wind von allen Ecken über die schmale Gemarkung hin
und heult in den hohen Fichten- und Buchenwäldern. Alle Bäume an
der Landstraße hat er windschief gedreht; doch vor den großen Wäldern
macht er Halt und fährt unwillig über die Baumkronen hin.