1915 -
Leipzig [u.a.]
: B. G. Teubner (Theodor Hofmann)
- Autor: Götze, G., Hellmuth, E., Dietlein, Rudolf, Dietlein, Woldemar, Schrader, Hermann
- Hrsg.: Jenetzky, F. W.
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Paritätische Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
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und schilt. Kinder, die noch auf der Straße spielten, lachen und necken ihn.
Sie wissen nicht, wie unglücklich ein solcher Trinker ist. Ihr solltet ihn
nur einmal des Morgens früh sehen, bevor er zur Arbeit geht. Wie schwer
ist ihm dann der Kopf, wie zittrig sind die Hände! Er hat Mühe, seine
Kaffeetasse zu halten. Nichts ist ihm recht, er ist in der schlechtesten Laune.
Das alles kommt vom Trunk Und all dies Ungemach ist fort, sowie er
die Flasche an die Lippen setzt. Der Schnaps vertreibt seinen Ärger, das
Zittern der Hände und sein ganzes elendes Befinden. Aber — und
das ist das Entsetzliche — jeden Morgen ist seine Stimmung schlechter,
sind seine Nerven aufgeregter, ist sein Befinden elender. So wird er
täglich mehr zum Trunkenbold, bis Schnaps und Bier ihn so krank ge-
macht haben, daß er keinen Menschen mehr erkennt, überall Gespenster
sieht und im Fieber phantasiert. Glücklich, wenn er mit dem Tode davon-
kommt. Und gegen diese gräßliche Krankheit gibt es keine Hilfe? — Nur
eine: Nicht trinken! Aber das ist so schwer für den Trinker; denn sein
Wille ist schwach geworden, so daß er der Trinklust nicht widerstehen kann.
2. Und nun denkt noch an die arme Frau dieses Betrunkenen, denkt an
die Kinder! Mit Zittern und Schrecken erwarten sie die Zeit, wenn der
Vater nach Hause kommt. Der Schnaps in seinem Kopfe gibt ihm häß-
liche Worte ein, er schimpft und skandaliert und weiß nicht, was er sagt
und tut, aber er sagt und tut nichts Gutes. Die Frau weint, die Kinder
jammern, das Haus ist voll von Elend und Not
Wenn ich daran denke, kann ich nicht über einen Betrunkenen lachen
oder ihn necken oder ihm häßliche Worte nachrufen.
Da biegt er in die schmale Seitenstraße. Laß ihn ruhig gehen! Er
sieht nichts, er hört nichts, der Schnaps hat ihn dumm und stumpf geinacht. —
Wir aber blicken mit hellen Augen in das Getriebe der Straße. Sieh nur
diese Schaufenster! Was ist hier alles ausgestellt! Da sind Vogelbauer
und Kaffeegeschirr, Besen und Matten, Plätteisen und Gasherde, Puppen
und Zinnsoldaten, große und kleine Bälle, Schaukeln und Schürzen, Bett-
stellen und Waschtische und tausend andere Sachen. Rechts und links von
der Haustür sind Schaufenster, in der Etage sind nur Schaufenster, unten
im Keller sind Schaufenster, das ganze, große Haus scheint nur aus Spiegel-
scheiben zu bestehen Fortwährend gehen Menschen ein und aus. Alle
Räume strahlen in hellem Glanze. Überall glühen die kleinen, elektrischen
Birnen und beleuchten tausend Formen und Farben.
Allmählich ist's stiller auf der Straße geworden. Freilich, es ist längst
Zeit zum Abendessen. Auch wir wollen heimgehen und daheim erzählen,
was wir gesehen haben. Lustiges und Trauriges, bunt durcheinander, wie
es uns die Straße gezeigt hat. Und dann ist's Zeit, zu Bett zu gehen.
Heinrich Scharrelmann (Weg zur Kraft).