1915 -
Leipzig [u.a.]
: B. G. Teubner (Theodor Hofmann)
- Autor: Götze, G., Hellmuth, E., Dietlein, Rudolf, Dietlein, Woldemar, Schrader, Hermann
- Hrsg.: Jenetzky, F. W.
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Paritätische Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
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der fleißige Chinese in jenem fernen Lande für uns pflanzt und der Neger
für uns unter der Tropensonne arbeitet. Ja, das nicht allein, die großen
Dampfer durchbrausen für uns in Sturm und Wogenschwall den mächtigen
Ozean, und die Karawanen ziehen durch die brennende Wüste. Der stolze,
millionenreiche Handelskönig, der in Hamburg in einem Palaste wohnt und
am Ufer der Elbe einen fürstlichen Landsitz sein nennt, muß uns einen
Teil seiner Sorge zuwenden, und wenn ihm der Handel schlaflose Nächte
macht, so liegen wir behaglich hingestreckt und träumen von schönen Dingen
und lassen ihn sich quälen, damit wir zu unserem Tee und unserem Tabak
gelangen. Es schmeckt mir noch einmal so gut, wenn ich daran denke/
Ach, er bedachte nicht, daß wohl der größte Teil dieses Tees an dem
Ufer eines träge dahinfließenden Baches gewachsen war, und daß dieser
Tabak im besten Falle die Uckermark sein Vaterland nannte, wenn er nicht
gar in Magdeburgs fruchtbaren Gefilden von derselben Rübe seinen Ur-
sprung nahm, die die Mutter des Zuckers war, mit dem wir uns den Tee
versüßt hatten. So ging dieser Abend heiter und friedlich zu Ende.
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4 Auf dem Hinwege zu der jetzigen Wohnung meines Freundes hatte
ich mir diese und ähnliche harmlose Erlebnisse aus jener ftöhlichen Zeit
wieder ins Gedächtnis gerufen, und eine Sehnsucht hatte mich befallen
nach jenen Tagen, die nicht wiederkehren. Und wie würde ich meinen Freund
wiederfinden?
Er sollte in der Gartenstraße wohnen, allein über die Hausnummer
war ich nicht im klaren. Schon wollte ich in ein Haus gehen, das ich für
das richtige hielt, und mich erkundigen, als ich auf zwei nette, reinliche
Kinder von fünf und sechs Jahren aufmerksam wurde, die sich vor der
benachbarten Haustür auf eine für sie scheinbar köstliche Art vergnügten. Es
war ein trüber Sommertag gewesen, und nun fing es an, ganz sanft zu
regnen. Da hatte nun der Knabe, als der ältere, den herrlichen Spaß ent-
deckt, das Gesicht gegen den Himmel zu richten und es sich in den offenen
Mund regnen zu lasten. Mit jener Begeisterung, die Kinder solchen
neuen Erfindungen entgegenbringen, hatte das Mädchen dies sofort nach-
geahmt, und nun standen sie beide dort, von Zeit zu Zeit mit ihren fröh-
lichen Kinderstimmen in hellen Jubel ausbrechend über dieses ungekannte
und kostenlose Vergnügen. Mich durchzuckte es wie ein Blitz: „Das sind
Hühnchens Kinder!" Dies war ganz in seinem Geiste gehandelt.
Ich fragte den Jungen: „Wie heißt dein Vater?" „Unser Vater heißt
Hühnchen," war die Antwort „Wo wohnt er?"
„Er wohnt in diesem Hause, drei Treppen hoch." ,Hch möchte ihn
besuchen," sagte ich, indem ich dem Knaben den reinlichen Blondkopf streichelte.