1915 -
Leipzig [u.a.]
: B. G. Teubner (Theodor Hofmann)
- Autor: Götze, G., Hellmuth, E., Dietlein, Rudolf, Dietlein, Woldemar, Schrader, Hermann
- Hrsg.: Jenetzky, F. W.
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Paritätische Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
Y. Aus der Natur
135. Die Wiesrngräfer.
Es ist ein herrlicher Junitag. Da wollen wir, umweht von Blüten-
duft und Sonnenschein, der üppigen, langgestreckten Wiese vor den Toren
der Stadt einen Besuch abstatten. Schon sind wir an Ort und Stelle
Wie herrlich ist ihr saftiges Grün! Wie neigen und beugen sich in
sanftem Lusthauche die mit zierlichen Ähren und Rispen gekrönten
Wiesengräser! Wie bunt erscheinen darunter die mancherlei blühen-
den Kräuter, die von zahllosen Hummeln, Bienen, Schmetterlingen,
Käfern und Fliegen besucht werden! Die Gräser selbst brauchen keinen
Jnsektenbesuch; sie sind windblütige Pflanzen. Heute wollen wir ihre
nähere Bekanntschaft machen.
Kräftiger und stattlicher freilich als die Gräser erscheint uns der
Roggen. Doch er ist ein Fremdling in unserm Klima. Unsere Vor-
fahren brachten ihn in uralter Zeit aus Westasien oder Südosteuropa
mit hierher. Einem üppigen Roggenfelde sieht man es nicht an, daß
seine Bewohner — wenn auch vor Tausenden von Jahren — gewohnt
waren, in einem anderen Klima zu nmchsen und zu reifen. Doch wie
sehr bedarf es der steten Pflege des Menschen! Haben sich irgendwo
auf unbebautem Boden einige Roggenkörner verstreut, so entstehen zwar
im ersten Jahre einige dürftige Halme, aber schon im darauffolgenden
sind sie spurlos verschwunden. Wie die Haustiere, so haben sich auch
unsre Kulturpflanzen durch die Zucht sehr verändert, so sehr, daß sie wild
wachsend nicht mehr vorkommen — außer einer Roggen- und Gerstenart
— zumeist auch nicht mehr fortkommen können. Und auf den ihnen
angewiesenen Feldern selbst, wie mühsam und oft vergeblich ist da ihr
Kampf gegen die mancherlei Unkräuter, die ihnen den Platz streitig machen!
Unter wieviel schlimmeren Verhältnissen wissen sich die Wiesen-
gräser, die echten Kinder unsrer Heimat, zu behaupten. Zwei-
bis dreimal im Jahre werden sie abgemäht, um unverdrossen gleich wieder
neue Halme emporzutreiben, neue Blüten anzulegen, ob es ihnen nicht
doch gelinge, Samen heranzureifen. Sie sind die ursprünglichen Besitzer
von Grund und Boden und halten ihn zähe fest gegen alle Gewalt-
tätigkeit, die man gegen sie ausübt. Ja, sie scheinen in diesem ewigen