1915 -
Leipzig [u.a.]
: B. G. Teubner (Theodor Hofmann)
- Autor: Götze, G., Hellmuth, E., Dietlein, Rudolf, Dietlein, Woldemar, Schrader, Hermann
- Hrsg.: Jenetzky, F. W.
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Paritätische Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
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hier augenscheinlich zu bestehen war, lockte seinen kühnen Sinn unwider-
stehlich, und so hieß er seine Gefährten in der Höhle bleiben und der
Heimkehr des Eigentümers harren.
Erwartungsvoll saßen sie da und nahmen aus den Körben einige
Käse, die sie verspeisten. Da verfinsterte sich plötzlich der Eingang der
Höhle. Ein scheußlicher Riese, der eine gewaltige Last gespaltenen
Holzes auf der Schulter trug, trat herein. Erschrocken wichen die
Griechen in den hintersten Winkel zurück, als sie ihn kommen sahen.
Er aber schien sie nicht zu bemerken, warf das Holz zur Erde, daß es
krachte, und trieb dann seine Herde herein, die aus mächtig großen
Ziegen und Schafen bestand. Hierauf versperrte er den Eingang mit
einem ungeheuren Felsblock, den hundert Zugtiere nicht hätten von der
Stelle schleppen können, und setzte sich nieder, um seine Schafe und
Ziegen der Reihe nach zu melken. Nachdem er dies Geschäft verrichtet
hatte, zündete er ein Feuer an. Da ward es hell in dem dämmerigen
Raume, und nun erst gewahrte der Riese die fremden Gäste.
3. „Holla!" rief er verwundert — und seine Stimme klang wie
das Gebrüll eines wütenden Stieres — „was seid ihr für Gesindel?
Wo kommt ihr her? Was habt ihr in meiner Behausung zu schaffen?"
Die Griechen erzitterten bei diesen Worten und sahen sich mit Grausen
in die Hand des einäugigen Scheusals gegeben; nur Odysseus blieb
mutig und erwiderte: „Wir sind Griechen und sind vom fernen Troja
hierher verschlagen worden. Jetzt bitten wir dich in Demut: Gewähre
uns Obdach und Bewirtung und gib uns ein kleines Gastgeschenk, wie
man Fremdlingen es anzubieten psiegt. Scheue die Götter, mein Guter,
und erhöre unsre Bitte! Zeus ist ja der Schützer und Rächer der
armen, hilfesuchenden Fremdlinge. Ihm zu Ehren wirst du das Gast-
recht heilig halten." Über diese Worte lachte der Kyklop, daß er wackelte,
und brüllte den Helden höhnisch an: „Fremdling, du bist ein Narr!
Mich heißest du die Götter ehren? Da kennst du uns Kyklopen schlecht!
Wir kümmern uns nicht um Zeus und seine ganze Sippschaft; denn
wir sind weit besser und vornehmer als sie. Wenn ich euch verschone,
so geschieht es aus angeborener Herzensgüte, aber keineswegs aus Furcht
vor den Göttern. Doch jetzt sage mir vor allem," fügte er mit schlauer
Miene hinzu, „wo liegt das Schiff, das dich hergetragen hat?" Aber
Odysseus merkte die Heimtücke und erwiderte mit kluger List: „Ach,
mein Lieber, unser Schiff ist an den Klippen zerschellt, an die ein
heftiger Sturm es schleuderte. Wir, die wir vor dir stehen, sind allein
dem Untergang entronnen."
Das riesige Ungetüm gab hierauf keine Antwort, sondern streckte
seine ungeheuren Hände aus, packte zwei der zitternden Gefährten und