1915 -
Leipzig [u.a.]
: B. G. Teubner (Theodor Hofmann)
- Autor: Götze, G., Hellmuth, E., Dietlein, Rudolf, Dietlein, Woldemar, Schrader, Hermann
- Hrsg.: Jenetzky, F. W.
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Paritätische Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
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Mann mit den blitzenden Augen in ihrer Jugend gekannt. Mit innerlicher
Freude streifte Hildebrands Blick sie flüchtig. Ihre edlen Züge trugen
wohl Spuren des Alters, aber er erkannte doch mit Wonne darin die
jugendliche Gattin wieder, nach der er sich so viele Jahre gesehnt hatte.
Nachdem der Hunger gestillt war, füllte Frau Ute einen Becher mit
Wein, trat damit vor Hildebrand hin und sprach: „Mit diesem Trünke
heiß' ich dich willkommen, du seltsamer Gast. Noch hab' ich kein Wort
von dir gehört, aber meines Sohnes Gesinnung gegen dich genügt mir,
um dich zu ehren und gern zu bewirten. Mögest du dich wohl fühlen in
der Burg zu Bern!" Nach diesen Worten nippte sie an dem Becher und
reichte ihn dem Alten hin. Dieser erhob sich schweigend, verneigte sich
und trank in einem Zuge den dargebotenen Wein. Dann aber klirrte es,
indem er den silbernen Becher an Frau Ute zurückgab, als ob Gold darin
niederglitte. Neugierig schaute die Wirtin hinein. Mit Befremden nahm
sie einen goldnen Ring vom Boden; dann aber, als sie ihn im Scheine
des Feuers genau betrachtet hatte, schrie sie laut auf und erbleichte. „Woher",
rief sie bebend, „hast du diesen Ring, du wunderbarer Mann?" Hildebrand
erwiderte: „Den Ring sendet dir, edle Frau, dein Gemahl zum Wahrzeichen
seiner baldigen Heimkehr."
Beim Klang seiner Stimme zuckte Frau Ute zusammen; dann aber
trat sie nahe an ihn heran und sah ihm prüfend ins Auge. Die innigste
Liebe leuchtete ihr daraus entgegen. Da sank sie ihn: weinend in die
Arme, und die beiden Gatten, die einander so viele Jahre fern gewesen
waren, hielten sich lange umschlungen. Nach K. G. Keck.
187. Gudrun.
a) Wie Gudrun sich mit Herwig verlobte.
In alten Zeiten herrschte über die Friesen, die an der Nordsee
wohnten, der mächtige König Hettel mit seiner schönen Gemahlin Hilde.
Viele Helden waren ihm untertan, darunter der riesige Wate, der
sangesknndige Horand von Dänemark und dessen Vetter, der listige Frute.
Zwei herrliche Kinder waren dem Königspaare erwachsen, die liebliche
Gudrun und der starke Ortwin.
Der König Siegfried von Moorland hatte vernommen, daß Gudrun
die schönste und herrlichste von allen Jungfrauen sei, und er warb um
ihre Hand; aber die Eltern versagten sie ihm. Darauf begehrten der
Normannenkönig Ludwig und seine Gemahlin, die stolze Gerlinde, Gudrun
zum Weibe für ihren Sohn Hartmut. Doch Hilde erwiderte seinen Boten:
„Wie mag König Ludwig sich unterfangen, meine Tochter für seinen Sohn
zu begehren? Er ist ihr nicht ebenbürtig; sie wird nie sein Weib!"