1915 -
Leipzig [u.a.]
: B. G. Teubner (Theodor Hofmann)
- Autor: Götze, G., Hellmuth, E., Dietlein, Rudolf, Dietlein, Woldemar, Schrader, Hermann
- Hrsg.: Jenetzky, F. W.
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Paritätische Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
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Wasser tragen, auf dem Herde die Brände schüren. Ihr einziger Trost
war es, wenn Ortrun sie einmal von weitem freundlich grüßte, oder wenn
sie mit Hildburg, ihrer treuesten Gefährtin, ein Wort tauschen konnte.
Gudrun ertrug alles, was man ihr auferlegte, ohne Widerrede.
Selbst über ungerechten Tadel murrte sie nicht. Doch ihr Sinn ward
durch die harte Arbeit nicht gebeugt. Auch als Gerlinde ihr drohte,
sie sollte mit ihren Haaren den Staub wischen, blieb sie bei ihrer
Weigerung. Ebensowenig vermochte Hartmuts und Ortruns gütliches
Zureden; denn Gudrun wollte lieber alle Drangsal erdulden als ihrem
Verlobten die Treue brechen.
So trug sie alles bis ins neunte Jahr. Als Gerlinde sah, daß
alle Härte, mit der sie die Jungfrau behandelte, ohne Erfolg blieb,
beschloß sie, sie noch tiefer zu demütigen. Sie sprach zu ihr: „Du sollst
mein Gewand täglich hinunter an den Strand tragen. Da sollst du für
mich und mein Gesinde fleißig waschen; aber hüte dich, daß man dich
jemals müßig treffe!" So mußte Gudrun mit einer Magd an den
Strand hinunter, um in Eis und Schnee zu waschen. Diese Schmach
ging allen, die es sahen, tief zu Herzen. Doch nur die treue Hildburg
wagte, vor Gerlinde zu treten und ihr zu sagen: „O, laßt sie nicht
allein in dieser Schmach, sie ist ein Königskind! Auch ich bin aus
edelm Hause, dennoch will ich gern die Arbeit mit ihr teilen." Da
lächelte die Königin arglistig und erlaubte es ihr; denn sie dachte, daß
Gudruns Pein noch größer würde, wenn sie sich vor einer ihrer
Freundinnen so erniedrigt sähe. Die treue Hildburg aber ging des
Abends in Gudruns Kammer, um ihr zu verkünden, daß sie die Arbeit
mit ihr teilen dürfe. Da klagten sie von Herzen einander ihre Schmach
und weinten, bis der Schlaf sich auf ihre müden Augenlider senkte.
ä) Wie die Befreiung nahte.
1. Die Königin Hilde hatte niemals aufgehört, über Mittel nach-
zusinnen, wie sie ihre Tochter aus den Händen der Normannen be-
freien könnte. Sie hatte starke Schiffe bauen lassen, und als die junge
Mannschaft nun herangewachsen war, sandte sie Boten aus und ließ zur
Teilnahme an dem Befreiungskriege auffordern. Da kamen Herwig,
Gudruns Verlobter, Horand und Frnte aus Dänemark und der alte
Wate mit ihren tapfersten Helden. Auch der junge Ortwin zog mit,
um das Leid der Schwester zu enden. Als alle Vorbereitungen
getroffen waren, stach die Flotte in See zur Heerfahrt nach dem
Normannenlande.
Es war an einem Mittwoch in der Fastenzeit, als Gudrun und
Hildburg wieder am Strande wuschen. Da kam ein Schwan heran-