1915 -
Leipzig [u.a.]
: B. G. Teubner (Theodor Hofmann)
- Autor: Götze, G., Hellmuth, E., Dietlein, Rudolf, Dietlein, Woldemar, Schrader, Hermann
- Hrsg.: Jenetzky, F. W.
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Paritätische Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
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2. Jetzt bestieg der Abt seinen ragenden Steinsitz, und sie ratschlagten,
was zu tun sei. Der Fall war schwierig. Ratpert trat auf und wies aus
den Aufzeichnungen vergangener Zeit nach, auf welche Art einst dem großen
Kaiser Karl dem Großen ermöglicht worden, in des Klosters Inneres zu
kommen. „Damals", sprach er, „ward angenommen, er sei ein Ordens-
bruder, solang' er in unsern Räumen weile, und alle taten, als ob sie
ihn nicht kenneten; kein Wort ward gesprochen von kaiserlicher Würde und
Kriegstaten oder demütiger Huldigung; er mußte einherwandeln wie die
Brüder auch."
Aber damit war das große Bedenken, daß jetzt eine Frau Einlaß
begehrte, nicht gelöst. Die strengeren Brüder murrten. Unter den jüngeren
erhob sich aber einer und erbat das Wort. Das war Ekkehard, weise und
beredt und ein kluger Gelehrter. Er sprach: „Die Herzogin in Schwaben
ist des Klosters Schirmvogt und gilt in solcher Eigenschaft als wie ein
Mann. Und wenn in unsrer Satzung streng geboten ist, daß kein Weib
den Fuß über des Klosters Schwelle setze: man kann sie ja darüber tragen!"
Da heiterten sich die Stirnen der Alten, als wäre jedem ein Stein vom
Herzen gefallen; beifällig nickten die Kapuzen, und der Abt stieg von seinem
Steinsitz und zog mit der Brüder Schar seinen Gästen entgegen. Er
eröffnete der Herzogin des Klosters Beschluß. Da sprach Frau Hadwig
lächelnd: „Solang' ich das Zepter führe in Schwabenland, ist inir ein
solcher Vorschlag nicht gemacht worden. Aber Euers Ordens Vorschrift
soll von uns kein Leids geschehen. — Welchem der Brüder habt Jhr's
zugewiesen, die Landesherrin über die Schwelle zu tragen?"
Da sprach der Abt: „Das ist des Pförtners Amt, da steht er!"
Bevor noch der Kämmerer vom Gaul herab und ihrem Zelter genaht
war, sprang sie anmutig aus dem Bügel, trat auf den Pförtner zu und
sprach: „So tut, was Euers Amtes ist!" Ekkehard umfaßte nüt starkem
Arm die Herzogin. Fröhlich schritt er unter seiner Bürde über die Schwelle,
die kein Frauenfuß berühren durfte, der Abt ihm zur Seite, Kämmerer
und Dienstmannen folgten. Hoch schwangen die dienenden Knaben ihre
Weihrauchfäffer, und die Mönche wandelten in doppelter Reihe, wie sie
gekommen waren, hinterdrein, die letzten Strophen ihres Lobliedes singend.
Indes hatten zwei der Mönche eine Truhe herbeigeholt, sie stand geöffnet
im Gang. Darein griff jetzt der Abt, zog eine funkelneue Kutte hervor
und sprach: „So ernenne ich denn unsers Klosters erlauchten Schirmvogt
zum Mitglied und zugeschriebenen Bruder und schmück' ihn dessen zum
Zeugnis mit des Ordens Gewandung!" Frau Hadwig fügte sich; leicht
bog sie das Knie, als sie die Kutte aus seinen Händen empfing, und legte
das Kleidungsstück um. „Für" euch gilt das gleiche!" rief nun der Abt
zu der Herzogin Gefolge, und bald prangten auch die Gefolgsmänner im