1912 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Steger, August, Wohlrabe, Wilhelm, Warncke, K.
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): offen für alle
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2. Ich hab' deutsch, nicht lateinisch noch griechisch reden Mollen, da ich
deutsch zu reden im Dolmetschen mir vorgenommen hatte.
Man muß nicht die Buchstaben in der fremden Sprache fragen, wie
man deutsch reden soll, sondern man muß die Mutter im Hause, die Binder
auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markte darum fragen und
denselben auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen, so
verstehen sie es, daß man deutsch mit ihnen redet.
Zum Exempel, da der Engel Maria grüßt, spricht er: „Gegrüßet
seist du, Maria voll Gnade usw." Wohlan, so ist's bisher schlecht, den
lateinischen Buchstaben nach verdeutscht. Sag mir aber, ob solches gut
deutsch sei. Wo redet der deutsche Mann also: Du bist voll Gnaden?
Und welcher Deutsche versteht, was gesagt sei: Voll Gnaden? Er muß
denken an ein Faß voll Bier oder einen Beutel Geldes. Darum habe ich's
verdeutscht: du Holdselige; damit doch ein Deutscher desto näher hinzu
könne denken, was der Engel meint mit seinem Gruße. Und hätte ich das
beste Deutsch hier sollen nehmen, hätte ich den Gruß also müssen ver-
deutschen: Gott grüß' dich, du liebe Maria! Denn so viel will der Engel
sagen, und so würde er geredet haben, wenn er sie hätte wollen deutsch
grüßen.
Wer deutsch kann, der weiß wohl, welch ein herzlich, fein Wort das
ist: die liebe Maria, der liebe Gott, der liebe Kaiser, der liebe Fürst,
der liebe Mann, das liebe Kind. Und ich weiß nicht, ob man das Wort
Liebe auch so herzlich und genugsam in lateinischer oder andern Sprachen
reden möge, daß es also dringe und klinge in das Herz, durch alle Sinne,
wie es tut in unsrer Sprache.
3. Und was soll ich viel und lang sagen vom Dolmetschen? Sollte
ich all meiner Worte Ursachen und Gedanken anzeigen, ich müßte wohl ein
Jahr daran zu schreiben haben. Was Dolmetschen für Kunst, Mühe und
Arbeit sei, das hab' ich wohl erfahren.
Das kann ich mit gutem Gewissen zeugen, daß ich meine höchste Treue
und Fleiß darin erzeigt und nie keine falschen Gedanken gesucht noch damit
gewonnen. So habe ich meine Ehre drin nicht gemeint, das weiß Gott,
mein Herr; sondern ich hab' es zu Dienst getan den lieben Christen und
zu Ehren einem, der droben sitzt, der mir alle Stunden so viel Gutes
tut, daß, wenn ich tausendmal so viel und fleißig dolmetsche, dennoch
nicht eine Stunde verdient hätte zu leben oder ein gesund Auge zu haben.
Es ist alles seiner Gnaden und Barmherzigkeit, was ich bin und hab';
ja, es ist seines teuern Blutes und sauern Schweißes; drum soll's auch
alles ihm zu Ehren dienen mit Freuden und vom Herzen. Lästern mich
die Feinde, wohlan, so loben mich die frommen Christen, und bin ich allzu-
reichlich belohnt, wo mich nur ein einziger Christ für einen treuen Arbeiter
erkennt.