1912 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Steger, August, Wohlrabe, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): offen für alle
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Dach und Fach brachte; die Innung der Knochenhauer hat Jahrzehnte
darüber nachgedacht, hat die berühmtesten Baumeister um ihren Rat ge-
fragt, Generationen haben an der Bausumme gespart, und als das Haus
im Rohbau fertig stand, sind nochmals Jahre vergangen, ehe jeder Balken-
kopf geschnitzt und jede Wandfläche bemalt war. Das Haus sollte Geist
und Gemüt erfreuen! Draußen vor den trutzigen Stadtmauern lag all-
zuoft der Feind, in den schmalen Gäßchen tobten die Geschlechterkämpfe,
Erholungsreisen und Wanderfahrten waren mit mannigfachen Gefahren
verbunden, so wurde das Haus zur Welt, die das Leben der meisten
Bürger einschloß, zu der Welt, die inan sich recht schön und behaglich
einrichten wollte. Bliihende Gewerbe, namentlich die Töpferei und die
von dem Bischof Bernward begründete Edelmetallkunst, dann der Handel
mit den Bauern des Landes und den Bürgern anderer Städte hatten
große Reichtümer nach Hildesheim gebracht, aber der Bürger des Mittel-
alters sammelte seine Reichtümer nicht in Banknoten und Kapitalien an,
sondern kaufte geschnitztes Hausgestühl, kunstvoll gewebte Tuche und Tep-
piche, einen Schatz von Leinen, Silbergeräten, getriebenen Leuchtern und
wohlgeformten Töpfen. So entsprach die innere Einrichtung der Häuser
auch ihrer stolzen Außenseite.
3. Wenn man jetzt in eins der alten Häuser tritt, so erschrickt man über
die kunstlose Einrichtung. Wir müssen noch viel lernen, ehe wir uns so
geschmackvoll einzurichten verstehen wie die wohlhabenden Biirger des kunst-
sinnigen Mittelalters. Wir sind indes auf dem besten Wege. Allerorten
regt sich neues, verheißungsvolles Leben in der Baukunst, der Möbel-
tischlerei, der Teppichweberei, den keramischen Gewerben, und gerade in
Hildesheim haben fast alle diese Bestrebungen einen fruchtbaren Boden
^gefunden. Davon zeugen die Arbeiten der dortigen Kunstwerkstätten, die
Ausstellungen Hildesheimer Kaufleute, und so manches neuerbaute Haus,
das sowohl in seiner äußeren Gestalt wie in seiner innern Einrichtung
einen wohlentwickelten Geschmack bekundet.
Die Zahl der mittelalterlichen Häuser Hildesheims beträgt an fünf-
hundert. Darunter befindet sich das Rathaus mit großen Wand- und
Deckengemälden, der Dom mit weltberühmten Kunstschätzen, und noch so
manche andere Kirche mit dämmerigem Licht und reichen farbigen Er-
innerungen. In der Andreaskirche verkündete Dr. Bugenhagen, ein Freund
Luthers, nach heftigen, von der Bürgerschaft siegreich geführten Kämpfen
die neue Lehre. In den bronzenen Domtüren und den 28 Bildern seiner
Christussäule aber hatte schon früher Bischof Bernward, ein Priester und
Künstler zugleich, dem des Lesens unkundigen Volke eine Bilderbibel in
Erz geschaffen.
4. Will man nun die Schönheit Alt-Hildesheims ganz genießen, so
muß man abends, wenn die Bäume rauschen und der Brunnen plätschert,