1911 -
Bielefeld [u.a.]
: Velhagen & Klasing
- Autor: Porger, Gustav, Wolff, Karl
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Knabenmittelschule
- Inhalt Raum/Thema: ABC_Lesen
- Geschlecht (WdK): Jungen
4.
Das nächste Jahr brachte die erste Ernte, neue Ansiedler und der
entstehenden Ortschaft einen Namen; denn da der erste Bebauer den Namen
Walter führte, so nannte man nach ihm den Platz Waltersrode, und also
heißt das Dorf bis auf den heutigen Tag. Im Laufe der Zeit verschwand
nun der Urwald bis auf einige wenige alte Riesenbäume, die man zum
Wahrzeichen stehen ließ, ganz aus der Ebene des Tales, und nur von den
Bergen und steilen Hängen schaute er noch finster hin auf den einstigen
Schauplatz seiner Größe und alleinigen Herrschaft. Anstatt seiner breitete
sich dort ein bunter Teppich verschiedenfarbiger Felder und saftig grüner
Wiesen aus. An dem Bache entlang zog sich die Dorfstraße, und an dieser
lagen saubere Häuser, mit hübschem Schnitzwerk verziert, umgeben
von Gärten, in denen Raute, Lavendel, Salbei und andere Würz-
pflanzen dufteten, in denen Mohn und Lilien, brennende Liebe und Gelb-
veigelein blühten und sich strotzende Küchengewächse üppig ausbreiteten.
Hinter den Häusern aber im Grasgarten schimmerten im Frühling silbern
und rosig die Obstbäume und standen im Herbste gebeugt von goldenen und
blauen Früchten. Am höchsten Punkte des Dorfes streckte nun aus dem
Schatten uralter Eichen eine Kirche ihr spitzes Türmlein hervor, und an
den stillen Sommerabenden hörte man statt des rauhen Gebrülls der
wilden Tiere ein friedliches Läuten, das Dengeln von Sensen und das
fröhliche Geschrei spielender Kinder.
Nur der Bach blieb bei diesem Wechsel der Dinge immer derselbe
und rauschte durch Dorf und Wiesen mit demselben Geplätscher dahin,
wie einst durch den unberührten llrwald. Er sah die endlose Kette mensch-
lichen Daseins an sich vorübergleiten und dahinfließen wie seine eigenen
Wellen, die ewig neu und ewig dieselben waren. Er sah die Kinder an
seinen Ufern spielen, wie sie Kanäle und Mühlen bauten mit) Krebse und
Forellen griffen. Er sah gebräunte Männer auf die Arbeit ziehen, in-
des sich die Frauen in Haus und Garten fleißig regten. Er sah an
seinem Rande gebrechliche Greise träumend in der Sonne sitzen, zu deren
Füßen neue Kinder die alten Spiele übten, und so flössen die Wellen
und die Jahre unablässig dahin. Dieses friedliche Leben ward nur unter-
brochen durch solche Ereignisse, für deren Fernbleiben allsonntäglich auf
der Kanzel gebetet wird, und denen das Menschengeschlecht doch nie und
nimmer entrinnen kann. Es kamen Kriegsläufte, in denen sich die kristall-
klaren Wellen des Baches mit Blut färbten; es kam eine Feuersbrunst und
verzehrte die Häuser des halben Dorfes; eine Pestilenz, ausgebrütet in den
Sümpfen der Länder gegen Sonnenaufgang, wanderte herbei, leerte die
Häuser und füllte den Kirchhof; Mißwachs und sein scheußliches Kind,
Hungersnot, zehrten an den Gebeinen der Dorfbewohner — doch alles über-
wand die unverwüstliche Kraft des Lebens, und so blüht und gedeiht der
freundliche Ort Waltersrode bis auf den heutigen Tag.