1910 -
Dortmund
: Crüwell
- Autor: Herold, Heinrich, Wolffgarten, Hilar, Herold, Theodor, Reinke, Stephan
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Geschlecht (WdK): Jungen
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bleiern schillernd liegt es da. Langgestreckte Wogen rollen darüber.
Die Schanmrosse jagen gegen das jenseitige User der kleinen Bucht,
nach deren Hasen ich strebte, und mit solcher Wucht zerschmetterten
sie sich dort an den Felsen, daß das Donnern ihrer Brandung als
leises Rollen bis hier herauf durch die merkwürdig fernsichtige Öuft
dringt. Fetzt weiß ich: dort unten tobt die Bora, der schrecklichste
der Stürme, den Europa kennt. Wenn wir einen Wind als Sturm
empfinden, so legt er im allgemeinen 15 m in der Sekunde zurück,
die Bora aber ist ein Sturm, der in der Sekunde mit der rasenden
Kraft von mehr als 60 m dahinjagen kann. Die Eisenbahnzüge
müssen „Sturmhäsen" aufsuchen, wo sie hinter hohen, eigens zu
diesem Zweck gebauten Mauern vorm Umstürzen geborgen sind.
Mit klopfendem Herzen steige ich bergab, denn ich kenne die
Wunderlichkeit dieses Naturereignisses. Aus der Höhe wird mir
der Sturm wenig anhaben, aber mit jedem Meter, das man tiefer
steigt, wächst seine Stärke. Ein unbeschreibliches Getöse klingt aus
der Tiefe zu mir herauf. Kaum halbminutenlang Ruhe, dann ein
schrilles Ausheulen, als ob ein Schmerzenslaut die ganze Tonleiter
durchliefe, und hundert dämonische Stimmen schreien über das Land
und ersterben in Flüstern. Ein Rauschen wie Flügelschlüge eines
unsichtbaren Geisterheeres erfüllt den Raum. Uber dem Meere
hängt ein Nebel von zerstäubtem Wasser, und nun geht auch ein
eisiger Regen nieder. Fetzt ist die eigentliche Sturmzone erreicht.
Das Gehen ist nur in den sturmfreien Minuten möglich. Aber bei
den Stößen muß man sich mit beiden Händen am Felsen anklam-
mern. Man hat das Gefühl, man würde sonst wie eine Feder
weggeweht. Große Steinplatten tanzen im Winde, die Luft ist
erfüllt mit einem Gischt von Wasser und scharfkantigen Steinchen,
die allein das Draußenbleiben schon gefährlich machen. Die ent-
fesselte Naturkraft hat etwas Geisterhaftes, unendlich Aufregendes.
Mit tausend Stimmen lacht und gellt es ringsumher. Man hört
in dem Toben der Luft gleichzeitig Lokomotiven pfeifen, ein helles
Kinderweinen, oft wie einen schönen klaren Gesang an- und abstei-
gend und dann jäh unterbrochen mit irrem Gelächter. Wutschreie
durchzucken das Stimmengewirr, dessen Baß ein tiefes Dröhnen wie
Donner, dessen Kopfstimme das scharfe Pfeifen der mit rasender
Geschwindigkeit dahinschießenden Luft ist. Sie zerrt mit aller Macht
an den Gewändern, sie wirft salzigen Meerstaub und Steine ins
Gesicht, sie sucht uns mit wüsten Stößen zu Boden zu schlagen,
wahrhaftig, sie hebt uns von dem Boden in kurzen Rucken, und
die Erde selbst scheint mir nicht mehr fest, sondern von einem leisen
Beben durchzittert. In dem endlich erreichten Städtchen sind Seile