1910 -
Dortmund
: Crüwell
- Autor: Herold, Heinrich, Wolffgarten, Hilar, Herold, Theodor, Reinke, Stephan
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Geschlecht (WdK): Jungen
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einander aufgefangen werden. Die Stoffe, die zuerst der schwach
erhitzten Retorte entströmen, werden leichte Teeröle genannt. Nach
einigen andern chemischen Körpern erscheinen bei gesteigerter Tem-
peratur die schweren Teeröle, und zuletzt bleibt als Rückstand ein
zäher, kaum noch flüssiger Stoff, das Teerpech, zurück, das nicht
mehr destillierbar ist. Die Produkte jeder Klasse besitzen chemische
Eigenschaften, die sie befähigen, neue Körper zu bilden, die eine weit-
gehende, ungeahnte Anwendung gesunden haben.
Von ganz besonderm Segen für die gesamte Menschheit sind
die Teerprodukte geworden, die durch die Hand des Arztes bei den
verschiedensten Krankheiten Verwendung finden. Daß ansteckende
Krankheiten, wie Cholera und Pest, die früher mit all ihren Schrecken
ganze Erdteile durchzogen, nicht mehr diese furchtbare Ausdehnung
annehmen, danken wir zum Teil der Karbolsäure, einem aus Teer
gewonnenen Mittel. Sie besitzt die Eigenschaft, die meisten Krank-
heitserreger zu töten, und ist somit imstande, die Weiterverbreitung
einer Seuche fast ganz zu verhindern. Sie dient also zur Desin-
fektion. Bei dem geringen Preise, für den sie käuflich ist, wird es
selbst dem Ärmsten möglich, sie anzuwenden. Gerade deshalb ist sie
so besonders wertvoll.
Leider ist die Karbolsäure giftig und kann daher nicht allge-
meine Anwendung finden; aber der Teer gibt uns noch ein anderes
Mittel, das dieselbe desinfizierende Eigenschaft besitzt wie das Kar-
bol; es ist das Lysol. Dieses wirkt allerdings im Magen des Men-
schen auch als Gift; dagegen wenden es die Ärzte bei Wundbehand-
lungen mit bestem Erfolg an.
Ein furchtbarer Feind des Menschen, der fast bei jeder Krank-
heit auftritt, ist das Fieber. Tausende fallen ihm alljährlich zum
Opfer, und mit banger Sorge betrachtet man einen lieben Kranken,
der von diesem tückischen Feinde niedergeworfen ist. Die einzige
Arznei, die man früher gegen das Fieber kannte, war das Chinin,
eine Abkochung der Rinde des Fieberbaumes. Diese konnte aber
sowohl wegen ihres hohen Preises als auch wegen ihrer giftigen
Eigenschaften nur in bescheidenem Maße verwendet werden. Da
war es wieder der Teer, der uns eine ganze Reihe billiger Fieber-
mittel lieferte, unter denen das Phenazetin das gebräuchlichste ist.
Ein Süßstoff, der Vierhundertmal so süß ist als Zucker, das
Saccharin, entstammt ebenfalls dem Teer. Es ist zwar kein eigent-
liches Genußmittel wie der Zucker; doch ist es für die leidende
Menschheit deshalb von so hoher Bedeutung, weil es von Kranken
genossen werden darf, denen der Zuckergenuß verboten ist. Sie
brauchen daher die manchmal so schmerzlich vermißten süßen Spei-
sen nicht mehr zu entbehren.
Von den vielen andern in der Heilkunde angewandten Teer-
stoffen sei nur noch die Salizylsäure erwähnt, die auch der Haus-
frau nicht unbekannt ist, da sie verschiedenen Speisen, besonders
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