1901 -
Kiel
: Lipsius & Tischer
- Autor: Lund, Heinrich, Suhr, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
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Ii. Aus der Geschichte des deutschen Vaterlandes.
geschah, um die Stadt zu bevölkern und wehrhaft gegen die Feinde zu machen.
Der König verschonte selbst Diebe und Räuber, wenn sie mutige und kriegs-
tüchtige Männer waren, und siedelte sie in der Vorstadt von Merseburg an.
Er gab ihnen Äcker und Waffen und gebot ihnen, mit ihren Landsleuten
Frieden zu halten; gegen die Wenden aber erlaubte er ihnen, auf Raub aus-
zuziehen, so oft sie es wollteu.
Aber auch auf andere Weise suchte Heinrich die Bevölkerung der neuen
Burgen zu heben. Er gebot, alle Gerichtstage, Volksversammlungen und Ge-
lage fortan innerhalb der Burgmauern zu halten; so oft die Sachsen zu-
sammenkamen, sollten sie sich in den Burgen versammeln, damit sie, die das
Lebeu in eingeschlossenen Orten immer noch für eine Einkerkerung hielten, sich
allmählich daran gewöhnten. Aber die befestigten Ortschaften Sachsens und
Thüringens sollten bei einem neuen Einbruch der Feinde nicht nur die Mög-
lichkeit zu einem kräftigeren Widerstande gewähren, sondern zugleich allen Grenz-
bewohnern Zuflucht und Sicherheit bieten. Deshalb mußte je der neunte
Mann von den Dienstleuten in die Burg ziehen, hier für sich und zugleich
für seine acht Gefährten Wohnung herrichten, wie auch Speicher und Vorrats-
kammern besorgen; denn der dritte Teil aller Feldfrüchte, die man gewann,
mußte in die Stadt eingeliefert werden und wurde dort aufgespeichert. Die
acht aber, die draußen waren, bestellten für den in der Burg das Feld, säten
und ernteten für ihn und brachten die Ernte in seine Scheunen. Außerhalb
der Burg sollten diese Dienstleute sich keine oder nur wertlose Wohnungen
anlegen, da diese doch bei dem ersten Angriff vom Feinde zerstört werden würden.
Obwohl diese Anordnungen zunächst nur für die Marken Sachsens und
Thüringens getroffen waren und auch nur dort durchgeführt werden konnten,
wirkten sie doch auch tiefer in das Land hinein und gewöhnten die Sachsen mit
der Zeit an das städtische Leben. Allmählich bildeten sich um die königlichen
Pfalzen und die größeren Burgen volkreiche Orte; auch um die Bischofssitze
und um die berühmtesten Kirchen und Klöster erwuchs ein lebendiger Verkehr;
zahlreicher bauten die Menschen hier sich an und befestigten bald ihre Wohn-
orte gegen die Feinde. So entstanden die Städte Sachsens und Thüringens;
zunächst als Wehr gegen äußere Feinde, dann aber als ein fruchtbarer, fried-
lich eingehegter Boden, auf dem die schönsten Früchte deutschen Fleißes und
deutscher Geistestiefe gedeihen sollten. Ist es auch nicht richtig, daß Heinrich
die städtischen Freiheiten und Gerechtsame in Deutschland begründet hat, wie
man früher wohl glaubte, so trägt er den Beinamen des Städtegründers doch
nicht ganz mit Unrecht, denn er war es, der die Sachsen zuerst an das Leben
hinter Mauern, Wällen und dem Verschluß der Thore gewöhnte, der die Zer-
streuten in engere Kreise des Lebens zusammendrängte. Wenn daher einer
durch das weite Sachsenland zieht, und es winkt ihm von fern eine volkreiche
Stadt mit ihren Türmen, und er sieht beim Eintritt, wie hier Tausende ein
friedliches und fleißiges Leben führen, so mag er Heinrichs gedenken, der die
Sachsen zum Städtebau zwang. Wilhelm von Giesebrecht.